Outback
kein Kind und kein Lehrer trauten sich, Betty zu hänseln. Ihre neuen Eltern nahmen sie überall mit hin, sagten, sie sei Aborigine, und sie hätten sich so sehr ein Kind gewünscht. Betty war glücklich. Schrieb in der Schule gute Noten, sprach wieder und dachte nur ganz selten an ihre Mum, die gestorben war.
Sie gewann bei Sportveranstaltungen jedes Rennen, und die Sportlehrerin wollte sie weiter fördern. Aber ihren Eltern war aufgefallen, dass Betty erstaunlich gut das, was sie gesehen hatte, nachzeichnete und Betty entschied sich für die Malerei anstatt für den Sport.
Mit siebzehn bekam sie ein Stipendium in Sydney. Ein Jahr später, mit achtzehn, wurde ihr Einsicht in ihre Akte gewährt. Da fand sie einen Brief ohne Absender. Darin erfuhr sie, dass ihre leibliche Mutter nicht gestorben war.
Sie reiste nach Charleville, wo ihre Mutter lebte, und fand eine fünfunddreißigjährige traurige Frau, die ein seltsames Englisch sprach, das sie kaum verstand. Sie saßen am Tisch und schwiegen lange. Und plötzlich sah sie Tränen in die Augen ihrer Mutter steigen. Da weinte sie auch. Sie weinten beide, und ihre Mutter nahm sie in die Arme, und sie weinten um all die Jahre, in denen beide geglaubt hatten, die andere sei tot.
Die Mutter erzählte von ihrem Sohn Moodroo und von ihrem Mann, der leider viel trank und immer traurig war. Als sie hörte, dass Betty Malerin war, schickte sie sie zu einem Onkel in Alice Springs. Betty lernte überall Maler und Malerinnen kennen. Michael Nelson Tjupurulla, Uta Uta Tjangala, Clifford Possum Tjapaljarri, Emily Kame Kngwarreye ... Sie wusste, dass sie anders war als sie, spürte, da ss sie nie so malen würde wie s i e . Sie war weiß erzogen worden, dachte weiß, fühlte weiß – aber sie wusste, dass sie für Weiße schwarz war.
An dieser Stelle hatte Fran k einen großen Absatz gemacht. Er schrieb weiter:
Dieses Schicksal und diese Erfahrung wurden zum bestimmenden Thema ihrer Malerei. Sie weitete das Thema aus auf allgemeinere Erfahrungen von Ausgeschlossenheit, Entwurzelung, Isolation – Themen der modernen Gesellschaft. Reisen führten sie nach Europa und in die USA, ihre Bilder wurden ausgestellt ... Betty Williams gehört heute zu den erfolgreicheren und auch international ausstellenden Malern.
Shane legte das Manuskript auf den Tisch. Wie oft hatte er Aborigines wegen Diebstahls und Totschlags verhaften müssen, die ähnliche Lebensläufe aber nicht das Glück gehabt hatten, bei liebevollen Pflegeeltern aufgewachsen zu sein. Die „Stolen Children“, wie sie sich nannten, die Kinder, die aus den Verbindu ngen zwischen Weißen und Aborigine s hervorgegangen waren und ihren meist schwarzen Müttern von der Regierung weggenommen und in Heime gebracht worden waren, verband alle das gleiche Schicksal: Sie mussten mit ihrer Entwurzelung und ihrer Identität, um die man sie betrogen hatte, fertig werden. Shane wunderte sich nicht, dass viele dem Alkohol verfielen.
Er hatte einmal einen Partner gehabt, damals, als er noch Streife fuhr, der Teilaborigine war, der ihm hin- und wieder die Fakten dargelegt hatte, die so gerne unter den Teppich gekehrt wurden. „Breeding out the colour“, hieß das Schlagwort aus den Neunzehnhundertd reißigerjahren, hatte ihm der Partner erklärt. Das beschrieb das Programm, Aborigines auszuradieren . Teilaborigines sollten Weiße heiraten, auf keinen Fall wieder Schwarze. So hoffte man, irgendwann die Aborigine-Frage abhaken zu können.
Acht Uhr. Über den Kingsford Smith Drive donnerten nicht mehr ganz so viele Autos und Trucks wie tagsüber. Er kam in dem Fall nicht weiter. Alle verschwiegen etwas. Auch Lorraine.
Vielleicht war sie abends ja zugänglicher. Er rief an und erfuhr, dass gerade eine Vernissage stattfand. Vierzig Minuten später warf er di e Taxitür hinter sich zu und betrat die Galerie, aus deren Eingang einladendes Licht flutete. Die Ventilatoren arbeiteten noch immer.
In der Ausstellungshalle standen dunkel gekleidete Menschen und tranken Sekt. Gemurmel, Gelächter und verschiedenste Gerüche erfüllten den Raum. Wenn das Lorraines Klientel war, konnte sie bestimmt nicht über mangelnde Einnahmen klagen. Und plötzlich war er ganz sicher, dass die Aborigine-Künstler in den Gemälden ihre Geheimnisse nicht preisgaben, und die Geschichten, die sie oft zu den Bildern dazu lieferten, frei erfunden und in Wahrheit für sie bedeutungslos waren.
Er drängte sich durch die Menge , blickte auf die Preisliste, die eine
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