Outlaw - Child, L: Outlaw - Nothing to Lose (12 Reacher)
sollen sich vor allem um den großen Kerl kümmern. Ihm geht’s anscheinend nicht gut.«
Dann trat er an die Bar und griff nach seinem Bier. Die Flasche stand noch immer an ihrem Platz: senkrecht auf ihrer Serviette. Er leerte sein Bier, stellte die Flasche auf den Tresen, ging durch die schweigenden Gäste zum Ausgang und trat in die Nacht hinaus.
31
Reacher musste zehn Minuten kreuz und quer durch das Straßengewirr südlich der Main Street fahren, bis er die Nickel Street fand. Die Straßenschilder waren klein und verblasst, und die Schweinwerfer von Vaughans altem Truck schwach und tief eingestellt. Er entzifferte Eisen und Chrom und Vanadium und Molybdän, aber dann folgten mehrere Straßen, die nur Nummern trugen, bevor er über Kupfer und Platin zu Gold gelangte. Die Nickel Street war eine von der Gold Street abzweigende Sackgasse. An ihr standen sechzehn Häuser, je acht auf beiden Straßenseiten, davon fünfzehn gleich groß und eines deutlich größer.
Richter Gardner, zugleich Thurmans Firmenanwalt, wohnte in dem großen Haus in der Nickel Street, hatte der Barkeeper gesagt. Reacher hielt am Randstein und las den Namen am Briefkasten des großen Hauses, bevor er in die Einfahrt abbog, den Motor abstellte und die wenigen Stufen zur Veranda vor dem Haus hinaufging. Im Vergleich zu seinen Nachbarn wirkte das mittelgroße Ranchhaus geradezu luxuriös, aber Gardner hätte es vermutlich selbst als Verkehrsrichter in Denver weiter bringen können. Der Fußboden der Veranda hing durch, als seien die Tragbalken verrottet, und die verblichene Holzverschalung brauchte dringend einen neuen Anstrich. Das Holz der Tür- und Fensterrahmen war ausgetrocknet und rissig. Die Treppe zur Veranda endete mit zwei Pfosten, auf denen zur Dekoration je eine Holzkugel saß. Beide Kugeln waren wie durch einen Beilhieb entlang ihrer Maserung gesprungen.
Reacher fand einen Klingelknopf und drückte zweimal mit dem Fingerknöchel darauf. Aus alter Gewohnheit hinterließ er keine Fingerabdrücke, wenn es nicht wirklich nötig war. Dann wartete er. Nach seiner Erfahrung musste man mit etwa zwanzig Sekunden Verzögerung rechnen, wenn man abends um diese Zeit in Suburbia an einer Haustür klingelte. Ehepaare, die nach dem Abendessen vor dem Fernseher saßen, wechselten einen erstaunten Blick, während sie sich fragten: Wer kann das sein? Um diese Zeit? Dann folgten stumme Fragen, bis sie sich schließlich darauf einigten, wer aufstehen und zur Tür gehen solle. Vor neun Uhr war es meist die Ehefrau, nach neun Uhr gewöhnlich der Ehemann.
Hier öffnete Mrs. Gardner die Haustür. Also die Ehefrau – mit dreiundzwanzig Sekunden Verzögerung. Sie sah ihrem Mann ähnlich: beleibt, Anfang sechzig, mit vollem weißem Haar. Nur Frisur und Kleidung ließen ihr Geschlecht erkennen. Sie hatte die großen festen Locken, die Frauen mit beheizten Lockenwicklern erzielen, und trug ein fast knöchellanges formloses graues Hängekleid. So stand sie nur undeutlich zu erkennen hinter einer Fliegengittertür und fragte: »Sie wünschen?«
Reacher antwortete: »Ich muss den Richter sprechen.«
»Es ist schon schrecklich spät«, sagte Mrs. Gardner, was nicht stimmte. Die große Standuhr hinter ihr in der Diele zeigte erst 20.29 Uhr an – auf der Uhr in Reachers Kopf war es zwei Minuten später –, aber in Wirklichkeit meinte die Frau: Sie sind ein großer bedrohlicher Kerl. Reacher lächelte. Sehen Sie sich doch an, hatte Vaughan gesagt. Was sehen Sie? Reacher wusste, dass er nicht der Idealtyp eines abendlichen Besuchers war. In neun von zehn Fällen waren nur Mormonenmissionare noch weniger willkommen als er.
»Die Sache ist dringend«, sagte er.
Die Frau stand da und schwieg. Nach Reachers Erfahrung würde der Mann auftauchen, wenn das Gespräch an der Haustür länger als dreißig Sekunden dauerte. Er würde den Kopf aus der Wohnzimmertür strecken und fragen: Wer ist da, Schatz? Und Reacher wollte, dass die Fliegengittertür schon vorher offen war. Er wollte notfalls verhindern können, dass die Haustür zugeknallt wurde.
»Die Sache ist dringend«, wiederholte er noch mal und zog die Fliegengittertür auf. Sie quietschte in abgenutzten Scharnieren. Die Frau wich zurück, ohne jedoch den Versuch zu machen, die Haustür zu schließen. Reacher trat über die Schwelle und ließ die Fliegengittertür hinter sich zufallen. In der Diele roch es nach abgestandener Luft und Kochdünsten. Reacher drehte sich um und schloss leise die Haustür. Jetzt
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