Outlaw - Child, L: Outlaw - Nothing to Lose (12 Reacher)
im Halbdunkel der Diele vor ihm. Ihr Haar war vom Duschen feucht und zurückgekämmt. Sie trug ein übergroßes T-Shirt. Darunter vermutlich nichts. Ihre Beine waren nackt. Sie war barfuss. So wirkte sie jünger und kleiner als sonst.
Sie fragte: »Wie haben Sie mich gefunden?«
Er sagte: »Telefonbuch.«
»Sie waren letzte Nacht hier. Haben sich umgesehen. Eine Nachbarin hat’s mir erzählt.«
»Sie haben ein hübsches Haus.«
»Mir gefällt’s.«
Sie sah den Schlüsselring an seinem Finger. Reacher sagte: »Ich muss Ihnen etwas beichten.«
»Was, schon wieder?«
»Jemand hat sämtliche Scheiben eingeworfen.«
Sie ging an ihm vorbei zur Einfahrt, begutachtete den Schaden und sagte: »Scheiße.« Dann schien sie zu merken, dass sie barfuß und im T-Shirt in ihrem Vorgarten stand, und trat in die Diele zurück.
»Wer?«, fragte sie.
»Einer von tausend Verdächtigen.«
»Wann?«
»Heute Morgen.«
»Wo?«
»Ich war im Werk.«
»Sie sind ein Idiot.«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Das Glas bezahle ich natürlich.« Er zog den Ring vom Finger und hielt ihr die Schlüssel hin. Aber Vaughan nahm sie nicht. Stattdessen sagte sie: »Kommen Sie lieber rein.«
Das Haus war so unterteilt, wie Reacher es sich vorgestellt hatte. Von rechts nach links lautete die Reihenfolge: Garage, Geräteraum, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Die Küche schien der Mittelpunkt des Hauses zu sein. Sie war mit farbig lackierten Möbelfronten, italienischen Kacheln und Tapeten mit Bordüren hübsch eingerichtet. Der Geschirrspüler lief, der Ausguss war leer und die Arbeitsflächen sahen aufgeräumt aus, aber trotzdem wirkte der Raum bewohnt. Es gab einen Vierertisch, an dem nur drei Stühle standen. Es gab Dinge, die Reachers Mutter Akzente genannt hätte: Trockenblumengestecke, Flaschen mit Olivenöl aus erster Pressung, das nie verwendet werden würde, alte Küchengeräte. Seine Mutter hatte behauptet, solche Dinge verliehen einem Raum Persönlichkeit. Reacher war sich nicht sicher gewesen, wie etwas außer einer Person eine Persönlichkeit besitzen konnte. Als Kind hatte er immer alles schrecklich wörtlich genommen, aber im Lauf der Jahre erkannt, was seine Mutter gemeint hatte. Und Vaughans Küche besaß Persönlichkeit.
Ihre Persönlichkeit, vermutete er.
Er hatte den Eindruck, ein Kopf habe alles ausgesucht und ein Paar Hände alles gestaltet. Nirgends ein Hinweis auf Kompromisse oder geschmackliche Differenzen. Natürlich hatte die Küche früher als Reich der Frau gegolten – darauf hatte vor allem seine Mutter bestanden, aber sie war Französin gewesen, was einen Unterschied machte. Und seither hatte sich angeblich einiges verändert. Heutzutage kochten auch Männer oder verteilten Sechserpacks oder hinterließen vom Motorradreparieren Ölflecken auf dem Fußboden.
Hier deutete nichts auf die Anwesenheit einer zweiten Person im Haus hin. Nicht das Geringste. Von seinem Standort am Ausguss aus konnte Reacher durch einen Bogen ins Wohnzimmer sehen. Im Blickfeld hatte er einen Fernseher, einen einzelnen Sessel und mehrere noch zugeklebte, aufgestapelte Umzugskartons.
Vaughan fragte: »Möchten Sie Kaffee?«
»Immer.«
»Haben Sie letzte Nacht geschlafen?«
»Nein.«
»Dann sollten Sie keinen trinken.«
»Er hält mich wach, bis ich ins Bett gehe.«
»Wie lange sind Sie schon mal wach geblieben?«
»Ungefähr zweiundsiebzig Stunden.«
»Und Sie haben dabei gearbeitet?«
Er nickte. »Wegen einer wichtigen Sache, aber die liegt schon zwanzig Jahre zurück.«
»Wichtige Ermittlungen?«
Er nickte erneut. »Ziemlich wichtige. An die Einzelheiten kann ich mich kaum mehr erinnern.«
Vaughan spülte den Glasbehälter der Kaffeemaschine aus und füllte Wasser ein. Die Maschine war ein großes Gerät aus Edelstahl, auf dessen Seiten in erhabenen Lettern das Wort Cuisinart prangte. Sie sah solide aus. Vaughan löffelte Kaffee in einen Goldfilter und stellte das Ding an. Dann sagte sie: »Die Deputys aus Despair sind gestern Abend nach einer Stunde heimgefahren.«
»Sie haben mich in der Bar aufgestöbert«, sagte Reacher. »Sie wollten mich durch den Anruf nach Westen locken, um mich dort zu überfallen. Das war sorgfältig geplant.«
»Und Sie sind darauf reingefallen.«
»Sie sind reingefallen. Ich habe genau gewusst, was sie vorhatten.«
»Woher?«
»Weil ich vor zwanzig Jahren bis zu zweiundsiebzig Stunden wach geblieben bin, um mich mit weit schlimmeren Leuten zu beschäftigen, als Sie jemals in Despair
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