Overkill - Bale, T: Overkill - Terror's Reach
Er hatte sie letzten September auf der griechischen Insel Naxos kennengelernt. Den Sommer hatte er als Deckshelfer auf einer gecharterten Jacht verbracht und sich anschließend einen Gelegenheitsjob als Barkeeper im Hauptort der Insel gesucht.
Valentins engster Berater, Gary McWhirter, war in der Bar gewesen, als während der Übertragung eines Champions-League-Spiels eine Schlägerei zwischen rivalisierenden Fußballfans ausgebrochen war. Beeindruckt von Joes Geschick bei der Beilegung des anschließenden Mini-Krawalls, hatte McWhirter Joe eingeladen, Nasenko kennenzulernen. Einer von Nasenkos Leibwächtern hatte kurzfristig gekündigt, und Valentin brauchte noch jemanden, der während einer dreiwöchigen Ägäis-Kreuzfahrt auf seine Frau und seine neugeborene Tochter aufpasste.
Anfangs hatte Joe noch gezögert. Die Vorstellung, eine junge Mutter und ihr Kind zu babysitten, erschien ihm nicht sonderlich reizvoll, aber die Aussicht auf das Geld nahm ihm zwangsläufig die Entscheidung ab. Eintausend Euro die Woche – falls er es wünschte, auch in bar.
Cassie Nasenko war anscheinend auch nicht besonders glücklich über die Situation. Sie sah Joe nur selten in die Augen und schien sich in seiner Gegenwart stets unbehaglich zu fühlen. Es wurde auch nicht besser, als Joe eines Tages zufällig hörte, wie sie irgendeine kitschige Ballade trällerte, und augenzwinkernd bemerkte, mit ein bisschen Übung könne aus ihr noch eine passable Karaoke-Sängerin werden. Hinterher erfuhr er, dass Cassie mit siebzehn das Finale eines Talentwettbewerbs im Fernsehen erreicht hatte, woran sich eine kurze Karriere als Popsängerin angeschlossen hatte.
Erst in der dritten Woche hatte sie sich allmählich an seine Anwesenheit gewöhnt, und nun erkannte er, dass sich hinter ihrer vermeintlichen Arroganz in Wahrheit Schüchternheit verbarg. Sie kam aus recht einfachen Verhältnissen, ganz ähnlich wie er selbst, und es war für sie immer noch nicht selbstverständlich, Personal zu haben, das sie nach Belieben herumkommandieren konnte.
Am Ende der Kreuzfahrt war es nicht Valentin, sondern Cassie, die vorschlug, dass Joe doch im Team bleiben könne. Joe vermutete, dass der Hauptgrund Jaden war, Cassies Sohn aus einer kurzen Beziehung mit einem Schauspieler in einer Fernsehsoap. Jaden war oft still und verschlossen, aber Joe schien einen besseren Draht zu dem Jungen zu haben als die meisten anderen.
Als die Rückkehr nach Großbritannien anstand, sah er sich mit einem weiteren Dilemma konfrontiert. Aus den verschiedensten Gründen hatte er es ganz und gar nicht eilig zurückzugehen, und doch konnte er nicht leugnen, dass die Vorstellung ihn faszinierte. In seinen Träumen, wo er die Vergangenheit mühelos vor sich ausbreiten und neu gestalten konnte, war sie immer präsent.
Joe hatte sich oft mit Fragen nach dem Ob und Wie und Wann seiner Rückkehr gequält und dabei geflissentlich einen Bogen um die Frage gemacht, die notwendig daraus folgte: Und was dann?
Wie sich herausstellte, war die Antwort simpel. Mach einfach deine Arbeit und bring den Tag hinter dich. Mach deine Arbeit und denk nie darüber nach, wo du stattdessen sein könntest.
Joe stieg das halbe Dutzend Stufen von der Terrasse hinunter. Der mittlere Teil des Gartens war im Grunde ein einziger großer Laufstall; ein gepflegtes Rasenquadrat, das
mit Zäunen gegen den Swimmingpool und den angrenzenden Landungssteg gesichert war. Es war mit Spielsachen übersät, Dreirädern und Fußbällen und Jadens aktuellem Lieblings-Zeitvertreib, einem überdimensionalen »Vier-gewinnt«-Spiel, das größer war als er selbst.
Cassie Nasenko saß auf einer Picknickdecke und starrte gedankenverloren in die Richtung von Jadens Versteck. Neben ihr schlief die zehn Monate alte Sofia, nackt bis auf ihre Windel, tief und fest im Schatten eines riesigen Sonnenschirms. Ihre speckigen weißen Ärmchen und Beinchen bildeten einen auffallenden Kontrast zur tiefen Sonnenbräune ihrer Mutter.
Cassie war eine kleine, zierliche Frau mit beinahe knabenhafter Figur: schmale Hüften, knochige Schultern und dünne Arme. Auf den ersten Blick hätte man glauben können, einen Teenager vor sich zu haben und nicht eine fünfundzwanzigjährige Frau und Mutter zweier Kinder.
In diesem ungewöhnlich heißen Juni trug sie immer das gleiche Outfit aus Flipflops, kurzen Jeans und Baumwolltops, mit einem Bikini anstelle von BH und Slip. Ihr sonnengebleichtes braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz hochgebunden,
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