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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Vorhalle
des Gemeindehauses, in der es durch das Öffnen und Schließen der Tür ständig
zog und gleichzeitig nach den dampfenden nassen Wollkleidern roch, von denen
der schmelzende Schnee auf die Heizung tropfte. Doch konnte ein gewöhnlicher
Rector der Christ Church mit dem in Windeln gewickelten Kind streiten, das
gleich in der Krippe liegen würde?
    [300]  »Wickel ihn so ein, wie er es
haben will«, wies Mr.   Wiggin seine Frau an; doch in seiner Stimme klang ein
drohender Unterton mit, als sei sich der Rector nicht sicher, ob Owen Meany nun
der Christ oder der Antichrist war. Und durch die groben Bewegungen, mit denen
sie ihn auswickelte und wieder einwickelte, demonstrierte Barb Wiggin, daß Owen
für sie nicht der Friedensfürst war.
    Die Kühe – die ehemaligen Tauben – stolperten in der überfüllten
Vorhalle herum, als seien sie unruhig, weil es kein Heu gab. Mary Beth Baird
sah recht üppig aus – wie ein dralles Filmsternchen – in ihrem weißen Gewand;
doch ihre Ausstrahlung als Muttergottes und Heilige Jungfrau wurde durch ihren
flotten Pferdeschwanz geschmälert. Als typischer Josef steckte ich in einem
langweiligen braunen Gewand – dem biblischen Pendant zu einem Dreiteiler.
Harold Crosby, der seine Erhebung in der immer wieder versagenden Engelmaschine
hinauszuzögern versuchte, war bereits zweimal »zum letzten Mal« auf die
Toilette gegangen. Es war ein Glück, dachte ich, daß Owen – eingepackt, wie er
war – nicht auch pinkeln mußte. Er konnte nicht stehen; und selbst wenn man ihn
auf die Füße gestellt hätte, hätte er nicht laufen können – Barb Wiggin hatte
ihm die Beine zu eng zusammengewickelt.
    Das war das erste Problem: Wie sollte er in die Krippe befördert
werden? Damit wir, die heilige Schar, uns von der Gemeinde unbemerkt in Pose
setzen konnten, war vor der »Krippe« eine dreiteilige Trennwand aufgebaut
worden – ein Kreuz aus Goldbrokat schmückte jeden Teil der Wand. Wir sollten
dahinter Stellung beziehen – und dort zur Reglosigkeit erstarren, wie auf einem
Foto. Und wenn der Engel seinen quälenden Abstieg vom Himmel zu den Hirten begann
und so die Aufmerksamkeit der Zuschauer von uns ablenkte, würde die violette
Trennwand fortgetragen werden. Die »Lichtsäule«, die den Hirten und Königen
folgte, würde dann die gespannte Aufmerksamkeit des Publikums auf uns im Stall
richten.
    [301]  Natürlich wollte Mary Beth Baird
Owen selbst zu seinem Heuhaufen tragen. »Ich kann das machen!« verkündete die
Jungfrau Maria. »Ich hab ihn schon öfter hochgehoben!«
    »NEIN, JOSEF TRÄGT DAS JESUSKIND !« rief Owen flehentlich; doch
Barb Wiggin wollte diese Aufgabe selbst übernehmen. Sie hatte bemerkt, daß dem
Erlöser die Nase lief, und wischte sie ihm geschickt ab; dann hielt sie ihm das
Taschentuch hin und sagte ihm, er solle »hineinschnauben«. Er gab einen
unheiligen Schneuzer von sich. Mary Beth Baird wurde mit einem sauberen
Taschentuch ausgestattet, für den Fall, daß die Nase des Jesuskindes wieder zu
laufen begann, während er im Heu lag; die Jungfrau Maria war entzückt,
Verantwortung für Owens körperliche Bedürfnisse übernehmen zu dürfen.
    Ehe sie den kleinen Friedensfürsten hochhob, beugte sich Barb Wiggin
über ihn und massierte ihm die Wangen. Diese Behandlung führte sie mit einer
seltsamen Mischung von Nüchternheit und Erotik durch. Ich sah natürlich etwas Stewardessenhaftes darin – als würde sie Owen einfach abfertigen,
so wie sie vielleicht einem Baby die Windeln wechselte; gleichzeitig aber war
es irgendwie anzüglich, daß sie seinem Gesicht mit ihrem so nahe kam, als wolle
sie ihn verführen. »Du bist so blaß«, sagte sie und kniff ihm sogar etwas Farbe
ins Gesicht.
    »AUTSCH !« sagte er.
    »Das Jesuskind sollte rosige Bäckchen haben«, meinte sie zu ihm. Sie
beugte sich noch näher zu ihm und berührte seine Nasenspitze mit ihrer; dann
gab sie ihm, ganz plötzlich, einen Kuß auf den Mund. Es war kein zärtlicher,
liebevoller Kuß; es war ein grausamer, neckender Kuß, der Owen verwirrte – er
wurde rot, sein Gesicht nahm die Farbe an, die Barb Wiggin sich gewünscht
hatte; Tränen schossen ihm in die Augen.
    »Ich weiß, daß du dich nicht gern küssen läßt, Owen«, meinte Barb
Wiggin kokett, »aber er soll dir nur Glück bringen – mehr nicht.«
    [302]  Ich wußte, es war das erste Mal,
daß Owen auf den Mund geküßt wurde, seit meine Mutter es getan hatte; daß Barb
Wiggin ihn vielleicht an meine Mutter erinnerte,

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