Owen Meany
ich war nur ein Josef; ich spürte, daß Owen Meany mich bereits
für die einzige Rolle ausgewählt hatte, die ich spielen konnte.
Über Nacht schneite es, es war jedoch kein heftiger Schneesturm;
dann fiel die Temperatur, bis es zu kalt zum Schneien wurde. Eine neue Schicht
Schnee hatte sich an jenem Sonntagmorgen über Gravesend ausgebreitet; der Wind,
das Allerschlimmste an der Kälte, ließ das Schneepulver in Wirbeln aufstieben
und die leeren Regenrinnen unseres Hauses in der Front Street klappern und
wehklagen; die Rinnen waren leer, weil der Schnee zu pulverig war, um daran
hängen zu bleiben.
Die Schneepflüge hatten es sonntags morgens nie besonders eilig, und
das einzige Gefährt, das auf seinem Weg in die Front Street [293] nicht schlitterte und wegrutschte, war der
schwere Lastwagen der Meany Granite Company. Owen hatte so viele Kleider an,
daß er die Knie kaum beugen konnte, als er die Auffahrt hinaufstapfte – und die
Arme baumelten nicht neben den Hüften, sondern standen seitlich ab, wie die
Gliedmaßen einer Vogelscheuche. Er war so fest in einen langen, dunkelgrünen
Schal eingewickelt, daß ich sein Gesicht überhaupt nicht sehen konnte – doch
wie hätte man Owen Meany mit jemand anderem verwechseln können? Den Schal hatte
meine Mutter ihm gegeben – als sie im Winter einmal bemerkt hatte, daß er
keinen besaß. Owen nannte ihn seinen GLÜCKSSCHAL und trug ihn nur zu besonderen Gelegenheiten, oder wenn es besonders kalt war.
Der letzte Sonntag vor Weihnachten war ein Anlaß, den Schal zu
tragen – aus beiden Gründen. Als wir auf dem Weg zur Christ Church die Front
Street hinunterstapften, flüchteten die Vögel vor Owens bellendem Husten; das
schleimige Rasseln in seiner Brust war so laut, daß ich es durch die vielen
Schichten winterlicher Kleidung hindurch vernehmen konnte.
»Das klingt aber gar nicht gut, Owen«, meinte ich.
»WENN JESUS AN EINEM SOLCHEN TAG GEBOREN WÄRE, DANN
GLAUB ICH NICHT, DASS ER BIS ZU SEINER KREUZIGUNG DURCHGEHALTEN HÄTTE«, gab
Owen zurück.
Auf dem fast jungfräulich weißen Bürgersteig der Front Street hatte
nur ein Fußgänger den Schnee vor uns zertreten; abgesehen von den wahllos
hingesprenkelten Hundemarkierungen war der Weg makellos weiß. Die Gestalt, die
die ersten menschlichen Spuren im Schnee hinterlassen hatte, war zu sehr
eingemummt und auch zu weit von Owen und mir entfernt, als daß wir sie hätten
erkennen können.
»KOMMT DEINE GROSSMUTTER NICHT ZUM KRIPPENSPIEL?« fragte
Owen.
»Sie ist doch bei den Kongregationalisten«, erinnerte ich ihn.
»ABER IST SIE SO WENIG FLEXIBEL, DASS SIE NICHT AN
EINEM [294] SONNTAG IM JAHR IN EINE ANDERE KIRCHE
GEHEN KANN? BEI DEN KONGREGATIONALISTEN GIBT’S DOCH GAR KEIN KRIPPENSPIEL. «
»Das weiß ich auch«, gab ich zurück, doch ich wußte noch mehr: Ich
wußte, die Kongregationalisten hatten am Morgen des letzten Sonntags vor
Weihnachten überhaupt keinen Gottesdienst – statt dessen hatten sie einen
Vespergottesdienst. Das war etwas Besonderes, da wurden hauptsächlich Weihnachtslieder
gesungen. Es lag nicht daran, daß der Gottesdienst, zu dem meine Großmutter
ging, sich mit unserem Krippenspiel überschnitten hätte; meine Großmutter war
einfach nicht gewillt, Owen in der Rolle des Erlösers zu sehen. Sie hatte die
Bemerkung fallenlassen, sie fände diesen Gedanken »abstoßend«. Außerdem machte
sie ein solches Theater um das Wetter, das ihr die Hüfte brechen könnte, daß
sie verkündete, sie würde auch nicht zum Vespergottesdienst in die
kongregationalistische Kirche gehen. Am späten Nachmittag, wenn es draußen
nicht mehr hell war, sei nämlich die Gefahr noch größer, daß man sich im
Dunkeln auf dem Glatteis die Hüfte brach.
Der Mann vor uns auf dem Bürgersteig war Mr. Fish, den wir recht
schnell einholten – Mr. Fish setzte so vorsichtig einen Fuß vor den anderen,
daß es schon fast absurd war; auch er muß Angst davor gehabt haben, sich die
Hüfte zu brechen. Beim Anblick von Owen Meany, der sich so dick in den Schal
meiner Mutter eingewickelt hatte, daß man nur noch seine Augen sah, erschrak
Mr. Fish; doch Mr. Fish erschrak oft, wenn er Owen sah.
»Warum seid ihr noch nicht in der Kirche beim Umkleiden?« fragte er
uns. Wir erklärten ihm, daß wir ohnehin eine Stunde zu früh da sein würden.
Selbst Mr. Fish würde bei seinem Tempo eine halbe Stunde vor Beginn des
Krippenspiels da sein; doch Owen und ich waren überrascht, daß er es
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