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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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des Raumes zusammengerollt und sich dann weinend
darauf gelegt. Es war schwierig, sie von Owens Kleidern zu lösen, ohne sie zu
schlagen; und unmöglich war es, ihr Schluchzen zu unterbrechen. Alles, was den
kleinen Herrn Jesus aufgebracht hatte, war ihre Schuld gewesen, so sah sie es; und es war ihr nicht gelungen, ihn zu beruhigen – sie hatte sich einfach als schlechte Mutter erwiesen. Owen haßte sie, da war sie sicher. Wie sehr wünschte sie sich doch, ihn
besser zu verstehen ! Und dennoch – wie sie mir
tränenüberströmt erklärte – war sie sicher, daß sie ihn besser »verstand« als
alle anderen.
    [323]  Im Alter von elf Jahren war ich
noch zu jung, um mir vorstellen zu können, was für eine überdrehte Ehefrau und
Mutter Mary Beth Baird einmal werden würde; dort im Vorraum wollte ich ihr nur
eine runterhauen, Owens Kleider an mich reißen und sie in ihrem Meer von Tränen
zurücklassen. Schon der Gedanke, daß sie Owen verstehen könnte, machte mich krank! Was sie eigentlich meinte, war, daß sie ihn mit nach
Hause nehmen und sich auf ihn legen wollte; ihre Vorstellung von Verständnis für ihn beschränkte sich auf den Wunsch,
seinen Körper zuzudecken und ihn niemals wieder aufstehen zu lassen.
    Ich brauchte zu lange, um aus dem Vorraum zu gelangen, und so
erwischte mich Barb Wiggin.
    »Wenn du ihm seine Kleider gibst, kannst du ihm was ausrichten«,
zischte sie mir zu, wobei sich ihre Finger in meine Schultern gruben und mich
schüttelten. »Sag ihm, daß er erst zu mir kommen muß, ehe er wieder in diese
Kirche darf – vor der Sonntagsschule, ehe er zur Messe geht. Er muß erst zu mir kommen. Vorher darf er nicht hinein!« wiederholte sie und schüttelte
mich noch einmal kräftig, damit ich es auch ja nicht vergäße.
    Ich war so aufgebracht, daß ich alles sofort Dan erzählte, der oben
beim Altar stand, neben Mr.   Fish, der abwechselnd auf das zerwühlte Heu und die
paar Geschenke starrte, die das Jesuskind liegengelassen hatte, als könne man
der Anordnung der Überreste einen Sinn entnehmen. Ich erzählte Dan, was Barb
Wiggin gesagt hatte, und wie sie Owen einen Steifen gemacht hatte, und wie ein
regelrechter Krieg zwischen den beiden ausgebrochen war – und jetzt, da war ich
sicher, durfte Owen nie mehr zu den Episkopalen in die Kirche gehen. Wenn er
die Christ Church nur unter der Voraussetzung wieder betreten durfte, daß er
vorher mit Barb Wiggin sprach, dann würde Owen uns Episkopalen genauso aus dem
Weg gehen wie im Moment den Katholiken. Ich wurde ganz aufgeregt, als ich das
alles Dan erzählte, der sich neben mich auf eine Bank gesetzt hatte und mir
aufmerksam zuhörte.
    [324]  Mr.   Fish kam an und sagte, der
Engel sei noch immer »da oben«. Er fragte sich, ob das auch im Drehbuch stand – daß man Harold Crosby im Dachgebälk hängen ließ, lange
nachdem Bühne und Zuschauerplätze schon leer waren? Harold Crosby, der denken
mußte, Gott und Barb Wiggin hätten ihm für immer den Rücken gekehrt, schwebte
zwischen den Strebepfeilern wie ein Opfer der Lynchjustiz; Dan, der sich mit
allen technischen Geräten der Bühnenausstattung auskannte, schaffte es
schließlich, den Apparat herunterzulassen und den in die Lüfte verbannten Engel
wieder auf den sicheren Boden zurückzuholen, wo Harold Crosby vor Erleichterung
und Dankbarkeit zusammenbrach. Er hatte sich übergeben, und – bei dem Versuch,
sich mit einem der Flügel sauberzuwischen – sein Kostüm gänzlich ruiniert.
    Da nahm Dan seine Verantwortung als Stiefvater auf höchst konkrete,
heldenhafte Weise wahr. Er trug den durchnäßten Harold Crosby in den
Gemeindehausvorraum und fragte Barb Wiggin, ob sie einen Moment Zeit für ihn
habe.
    »Sehen Sie nicht…« erwiderte sie, »daß es im Augenblick etwas
ungünstig ist?«
    »Ich möchte diese Angelegenheit – wie Sie den Jungen da hängengelassen haben – nicht im Kirchenvorstand
vorbringen«, sagte Dan zu ihr. Er hatte Mühe, Harold Crosby zu tragen – nicht
nur, weil Harold schwer und naß war, sondern weil der Geruch von Erbrochenem,
besonders in der stickigen Luft des Vorraumes, überwältigend war.
    »Im Augenblick sollten Sie besser gar nichts vorbringen«, warnte ihn
Barb Wiggin, doch Dan Needham war nicht der Mann, der sich von einer Stewardess
so schnell abfertigen ließ.
    »Kein Mensch regt sich darüber auf, wenn bei einer Kinderaufführung
alles mögliche schiefgeht«, meinte Dan, »aber diesen Jungen hier hat man in der
Luft hängen lassen – sechs

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