Owen Meany
Ansprache
benutzt.«
»Ich habe lediglich gesagt, daß ich Weihnachten deprimierend finde«,
verteidigte ich mich.
»›Lediglich‹!« wiederholte Canon Mackie. »Für die Kirche ist
Weihnachten sehr wichtig – für ihren Auftrag, für das ganze kirchliche Leben in
unserer Stadt. Und Weihnachten ist ein zentrales Ereignis für die Kinder in
unserer Kirche.«
Und wie hätte Canon Mackie reagiert, wenn ich ihm gesagt hätte, daß
Weihnachten 1953 für mich das endgültige Weihnachtsfest gewesen ist? Er hätte
mir, einmal mehr, erklärt, daß ich in der Vergangenheit lebe. Also sagte ich
nichts. Schließlich hatte ich ja gar nicht über Weihnachten reden wollen.
Ist es ein Wunder, daß Weihnachten – seit jenem Weihnachtsfest – auf mich deprimierend wirkt? Das Krippenspiel,
bei dem ich 1953 Zeuge war, ist an die Stelle der alten Geschichte getreten.
Christus ist geboren – »auf wunderbare Weise«, das sicherlich; doch auf noch
wunderbarere Weise setzt er seinen Willen durch, noch ehe er laufen kann! Er
verlangt nicht nur, verehrt und angebetet zu werden – von Bauern und Königen,
von Tieren und seinen eigenen Eltern! – sondern verbannt seine Mutter und
seinen Vater aus dem Haus der Gebete und Choräle. Nie werde ich die feuerrote
Farbe [319] seiner Haut in der Winterkälte
vergessen, und das krankenhausfarbene Weiß seiner Windeln vor dem
frischgefallenen Schnee – das Bild des kleinen Herrn Jesus als geborenes Opfer,
schutzlos, in Bandagen gewickelt, wütend und anklagend: und so dick
eingewickelt, daß er nicht einmal die Knie beugen konnte und auf dem Schoß
seiner Eltern liegen mußte, so steif, wie ein tödlich Verwundeter auf der Bahre
liegt.
Wie kann einem nach diesem Erlebnis Weihnachten noch gefallen? Bevor
ich zum Gläubigen wurde, konnte ich mich wenigstens noch meinen Illusionen
hingeben.
Jener Sonntag, als ich draußen in der Elliot Street durch mein
Josefsgewand den schneidenden Wind spürte, trug zu meinem Glauben an – und zu
meiner Abneigung gegen das Wunder bei. Wie die Zuschauer sich drängelten, um
zum Ausgang zu gelangen; wie sehr es sie ärgerte, daß ihre Erwartungen ohne
Vorwarnung enttäuscht worden waren. Der Rector stand nicht zum Händeschütteln
auf der Treppe, da so viele der Gemeindemitglieder unserem triumphalen Abgang gefolgt waren, ihn am Altar hatten stehenlassen, ehe er dazu
gekommen war, den Segen auszuteilen. Das hatte er vom Kirchenschiff aus tun
wollen, wohin das Schlußlied ihn (und nicht uns) hatte geleiten sollen.
Und was sollte Barb Wiggin tun, jetzt, wo sie die »Lichtsäule« so
eingestellt hatte, daß sie dem Jesuskind und seiner Schar zur Tür folgte? Dan
Needham erzählte mir später, daß Rev. Dudley Wiggin eine für den Rector der
Christ Church höchst ungewöhnliche Geste von der Kanzel herab machte; er fuhr
sich mit dem Zeigefinger über die Kehle – ein Signal für seine Frau, das Licht
auszumachen, was sie (erst nachdem wir weg waren) auch tat. Doch für viele der
verwirrten Gemeindemitglieder, die sonst die Anweisungen des Rector immer
befolgten – denn wie sonst sollten sie wissen, was sie bei dieser einzigartigen
Feier als nächstes tun sollten? – war die Geste, mit der sich Rev. Dudley
Wiggin die eigene Kehle durchzuschneiden schien, besonders beeindruckend. In [320] seiner Unwissenheit imitierte Mr. Fish die Geste,
als sei sie ein Befehl – und schaute dann zustimmungssuchend auf Dan. Dan
bemerkte, daß Mr. Fish nicht der einzige war.
Und was sollten wir tun? Unsere
Stalltruppe, schlecht gekleidet für dieses Wetter, stand unschlüssig herum,
nachdem der Granitlaster in die Front Street eingebogen und davongefahren war.
Das wieder zum Leben erwachte Hinterteil des Esels rannte zur Seitentür des
Gemeindehauses, die jedoch verschlossen war; die Kühe rutschten im Schnee aus.
Wohin sollten wir gehen, außer zurück durch den Haupteingang? Hatte jemand die
Seitentür abgesperrt, weil er befürchtete, Diebe könnten unsere Kleider
stehlen? Soweit wir wußten, gab es in Gravesend weder Mangel an Kleidern, wie
wir sie hatten, noch Räuber. Und so kämpften wir uns gegen den Strom durch,
warfen uns zwischen die Gemeindemitglieder, die hinaus wollten, damit wir hinein konnten. Bei Barb Wiggin,
die sich von jedem Gottesdienst wünschte, daß er so reibungslos verlief wie ein
Flug ohne Windböen – und ohne Verzögerungen bei Abflug und Ankunft – muß der
Anblick des Verkehrsstaus im Kirchenschiff zusätzliche Beunruhigung
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