Owen Meany
Himmel aufgegangen war. Und Hester liebte
Respektlosigkeit; es hätte Noah, Simon und mich nicht überraschen dürfen, daß
›Die Stimme‹ ihr Herz erobert hatte.
Was auch immer sie mit dem farbigen Bootsmann aus Tortola erlebt
haben mochte, diese Begegnung hatte in Hesters wild erblühender Weiblichkeit
ein Maß an Zurückhaltung hinterlassen, die Frauen nur von den tragischsten
Verstrickungen in die Liebe davontragen; ihre dunkle und urwüchsige Schönheit
und den beträchtlichen Gewichtsverlust, der die Aufmerksamkeit auf ihre voll
entwickelten Brüste und die kantigen Knochen in ihrem düsteren Gesicht lenkte,
unterstrich Hester noch, indem sie sich gerade so weit zurückhielt, daß ihre
Gefährlichkeit zugleich unterschwelliger und eindeutiger war. Ihre
Zurückhaltung ließ sie reifer werden; sie hatte sich schon immer zu kleiden
gewußt – [411] ich glaube, das liegt in der
Familie. Hester trug einfache, teure Kleider – aber lässiger, als der
Modeschöpfer sich vorgestellt hatte, und die Größe stimmte nie ganz; ihr Körper
gehörte in den Urwald, wollte so wenig wie möglich bedeckt sein, vorzugsweise
nur mit Pelz oder Gras. Zum Ball trug sie ein kurzes schwarzes Kleid mit
unglaublich dünnen Spaghettiträgern; das Kleid besaß einen locker fallenden
Rockteil, war an der Taille eng geschnitten und hatte einen tiefen Ausschnitt,
der Hesters freizügiges Dekolleté freiließ – ein reizvoller Hintergrund für die
rosa Perlenkette, die meine Tante Martha ihr zum siebzehnten Geburtstag geschenkt
hatte. Sie trug keine Strümpfe und tanzte barfuß; um eines ihrer Fußgelenke
schlang sich ein schwarzes Lederband, an dem eine türkisfarbene Perle baumelte – und ihren Fuß berührte. Das Schmuckstück konnte nur einen nostalgischen Wert
haben; Noah deutete an, daß der farbige Bootsmann aus Tortola es ihr geschenkt
hatte. Bei diesem Ball ließen die Aufpasser – und ihre Frauen – die Augen nicht
von Hester. Wir alle waren von ihr in Bann geschlagen. Wenn Owen mit Hester
tanzte, paßte sein hervorstehendes Nasenbein genau in Hesters Ausschnitt;
niemand klatschte sie ab.
Da standen wir nun, in unseren geliehenen Smokings, Jungs, die mehr
Angst vor Pickeln hatten als vor dem Krieg; doch Owens Smoking war nicht
ausgeliehen – meine Großmutter hatte ihn gekauft – und mit seinem Schnitt, dem
Stoff ohne abgewetzte Stellen, seinem Satinansatz am schmalen Revers, sagte uns
dieser Smoking ganz deutlich, was uns ohnehin klar war: ›Die Stimme‹ drückte
das aus, was wir nicht in Worte fassen konnten.
Wie alle Tanzveranstaltungen an der Academy endete auch diese unter
ständiger Beobachtung; niemand durfte den Ball vorzeitig verlassen, und wenn
jemand ging und seine Partnerin in das Gästehaus begleitet hatte, mußte er sich
in seinem eigenen Internatsgebäude »zurückmelden«, und zwar genau fünfzehn
Minuten, nachdem er sich »abgemeldet« hatte. Doch Hester übernachtete in
unserem Haus in der Front Street.
[412] Ich schämte mich zu sehr, um das
Wochenende bei meiner Großmutter zu verbringen – wo Hester doch von Owen
eingeladen worden war –, und deshalb schloß ich mich den anderen Jungen an,
die, wie es die Regeln vorschrieben, zurück ins Internatsgebäude gingen, und
begab mich zu Dan. Owen, der als Tagesschüler die Erlaubnis hatte, mit dem Auto
zu kommen, fuhr Hester in die Front Street. Einmal im Führerhaus des
tomatenroten Kleintransporters angelangt, mußten sich Hester und Owen nicht
mehr den Regeln des Veranstaltungsausschusses fügen; sie zündeten sich eine
Zigarette an, und der Rauch verbarg ihren sicherlich zufriedenen
Gesichtsausdruck; beide ließen einen Arm aus dem offenen Fenster hängen, als
Owen das Radio laut aufdrehte und schwungvoll davonfuhr. Mit der Zigarette im
Mund und mit Hester neben sich – im Smoking hoch oben im Führerhaus seines
tomatenroten Kleintransporters – wirkte Owen Meany beinahe groß.
Andere Jungen behaupteten, sie hätten es mit den Mädchen in den
Büschen »getrieben« – auf dem Weg zum Gästehaus. Andere Jungen stellten auf den
Fluren Kußtechniken zur Schau, »grabschten« im Ankleideraum ein wenig herum,
trotzten dem Sperberblick der Aufpasser, die alles, was so vulgär war wie die
Zunge in das Ohr eines Mädchens zu stecken, unerbittlich ahndeten. Doch außer
der unbestreitbaren Tatsache, daß er seine Nase in Hesters Ausschnitt gebettet
hatte, griffen Owen und Hester weder auf allgemein übliche noch auf anstößige
Formen der
Weitere Kostenlose Bücher