Owen Meany
spaßte der Trainer mit ihm.
»ES IST NICHT FÜR EIN SPIEL«, gab Owen
zurück, der für alles seine eigenen Gründe hatte.
In jenen Weihnachtsferien 1959 verbrachten wir täglich Stunden in
der Turnhalle der Gravesend Academy; wir waren allein und ungestört – alle
Internatsschüler waren zu Hause – und wir waren voller Zorn auf die Eastmans,
die uns ganz betont nicht nach Sawyer Depot einzuladen schienen. Noah und Simon
hatten einen Freund aus Kalifornien mitgebracht; Hester war »manchmal zu Hause
und manchmal nicht«; und einige alte Freundinnen von Tante Martha, aus ihrer
Studienzeit, würden »vielleicht« vorbeikommen. Der wahre Grund, weshalb sie uns
nicht einluden, da waren Owen und ich sicher, bestand darin, daß Tante Martha
die [427] Beziehung zwischen Hester und Owen
keinesfalls fördern wollte. Hester hatte Owen erzählt, ihre Mutter bezeichne
ihn als »den Jungen, der diesen Ball geschlagen hat« und als »den seltsamen
kleinen Freund von John« – und als »diesen Jungen, den meine Mutter wie eine
Puppe herausputzt«. Doch Hester hatte so wenig für ihre Mutter übrig und war so
darauf aus, Schwierigkeiten zu provozieren, daß sie sich all das auch einfach
nur ausgedacht haben mochte – damit Owen Tante Martha auch nicht mehr leiden
konnte. Owen schien das alles egal zu sein.
Ich hatte über die Ferien eine Verlängerung für zwei Referate
bekommen – von daher hatte ich sowieso kaum Ferien; Owen half mir bei dem
Geschichtsreferat und schrieb das Englischreferat für mich. »ICH HAB EXTRA NICHT ALLES RICHTIG GESCHRIEBEN. ICH HAB EIN PAAR
GRAMMATIKFEHLER EINGEBAUT – SO WIE DU SIE OFT MACHST«, sagte
er mir. »ICH HAB MICH GELEGENTLICH WIEDERHOLT, UND ÜBER DEN
MITTELTEIL DES BUCHES HAB ICH KEIN WORT VERLOREN – ALS OB DU DAS NICHT GELESEN
HÄTTEST. DEN TEIL HAST DU DOCH NICHT GELESEN, ODER?«
Das war ein Problem: daß meine Klassenarbeiten, die Tests und
Prüfungen nicht annähernd so gut waren wie die Hausarbeiten, bei denen Owen mir
half. Doch für alle angekündigten Tests lernten wir gemeinsam, und – langsam – wurde ich etwas besser. Wegen meiner Rechtschreibschwäche mußte ich einen
Förderkurs belegen, was ich als Beleidigung empfand, und – ebenfalls wegen
meiner Schreibschwäche und meiner oft verwirrten Auftritte, wenn ich nach vorn
gerufen wurde – mußte ich einmal die Woche zum Schulpsychologen. Die Gravesend
Academy war gute Schüler gewöhnt; wenn jemand schulische Schwierigkeiten hatte – sogar wenn jemand einfach nur die Rechtschreibung nicht vollständig
beherrschte! – dann fand man, er gehöre auf die Couch.
Auch dazu hatte ›Die Stimme‹ etwas zu sagen. »MIR SCHEINT,
DIE SCHÜLER, DIE NICHT SO LEICHT WIE ANDERE LERNEN, [428] LEIDEN
AN EINER ART LERNSCHWÄCHE – IRGEND ETWAS HINDERT SIE DARAN, ZAHLEN UND
BUCHSTABEN RICHTIG ZU ERKENNEN, UND IRGENDWIE KOMMEN SIE MIT UNBEKANNTEM STOFF
NICHT SO GUT ZURECHT –, DOCH MIR IST UNKLAR, WIESO DIESE LERNBEHINDERUNG DURCH
EINEN BESUCH BEIM PSYCHOLOGEN BEHOBEN WERDEN SOLL. WAS HIER ZU FEHLEN SCHEINT,
IST EINE TECHNISCHE FÄHIGKEIT, MIT DER DIE ›GUTEN SCHÜLER‹ UNTER UNS GEBOREN
SIND. JEMAND SOLLTE DIESE FÄHIGKEITEN EINMAL GENAUER UNTERSUCHEN UND SIE DANN
LEHREN. WAS HAT EIN PSYCHOLOGE DAMIT ZU TUN?«
In jener Zeit hatten wir noch nichts von Legasthenie und anderen
sogenannten »Lernbehinderungen« gehört; Schüler wie ich wurden einfach als dumm
eingestuft oder als langsam. Bei meinem Problem traf Owen den Nagel auf den
Kopf. » VOR ALLEM BIST DU LANGSAM «, meinte er.
» DU BIST FAST SO SCHLAU WIE ICH, ABER DU BRAUCHST ZU ALLEM DOPPELT SO LANGE .«
Der Schulpsychologe – ein pensionierter Herr aus der Schweiz, der jeden Sommer
nach Zürich flog – war davon überzeugt, daß meine schulischen Schwierigkeiten
von der »Ermordung« meiner Mutter durch meinen besten Freund herrührten und von
den »Spannungen und Konflikten«, die für ihn ein »unausweichliches Resultat«
der Tatsache waren, daß ich mein Leben zwischen meiner Großmutter und meinem
Stiefvater aufteilte.
»Manchmal muscht du ihn doch hassen – oder?« sinnierte Dr. Dolder.
»Wen denn?« fragte ich. »Meinen Stiefvater? Nein – ich liebe Dan!«
»Deinen beschten Freund – manchmal haßt du ihn doch. Oder?« fragte
Dr. Dolder.
»Nein!« erwiderte ich. »Ich liebe Owen – es war ein Unfall. «
»Ja soo«, meinte Dr. Dolder. »Aber nichtsdeschtotrotz… deine
Großmutter vielleicht, sie erinnert dich doch sicher schmerzlich
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