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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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schlafmützig. Wie
konnten sie nur den Tod des Pferdes so sorglos überlesen? »Niemand tadelte Tess
so sehr, wie sie sich selber tadelte«, schreibt Hardy; er sagt sogar: »Ihr
Gesicht war trocken und bleich, als stünde sie vor sich selber wie eine
Mörderin da.« Und was fiel meinen Schülerinnen zu Tess’ Aussehen ein? »Eine
Üppigkeit der Erscheinung, eine körperliche Fülle, die bewirkte, daß sie viel
fraulicher wirkte, als sie in Wirklichkeit war.« Gar nichts fiel ihnen dazu
ein.
    »Trifft diese Beschreibung nicht auch… auf ein paar von euch zu?«
fragte ich meine Klasse. »Was denkt ihr euch denn, wenn ihr unter euch jemanden
habt, der so aussieht?«
    Schweigen.
    Und was meinten sie, was am Schluß der ersten »Phase« passierte – wurde Tess verführt oder wurde sie vergewaltigt? »Sie schlief fest«, schreibt
Hardy. Will er sagen, daß d’Urberville sich an ihr verging, während sie
schlief?
    Schweigen.
    Ehe sie sich durch die zweite »Phase« von Tess, den Teil mit dem Titel »Kein Mädchen mehr« quälten, sollten sie, so schlug ich
vor, den ersten Teil noch einmal oder vielleicht
auch, was ich durchaus für möglich hielt, wenigstens einmal lesen!
    »Paßt auf!« legte ich ihnen ans Herz. »Wenn Tess sagt: ›Ist [432]  Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß, was jede
Frau sagt, manche Frau auch fühlen könnte?‹ – dann paßt auf! Achtet darauf, wo Tess’ Kind begraben wird – ›in jenem elenden Winkel des
Gottesackers, wo der HERR die Wurzeln wachsen läßt und wo
alle Kinder ruhen, alle notorischen Trunkenbolde, Selbstmörder und anderen
mutmaßlichen verdammten Seelen.‹ Fragt euch, was Hardy von dem ›Gottesacker‹
hält – und was er von Zufall und Pech hält, von den Umständen, die sich, wie
man gemeinhin annimmt, unserem Einfluß entziehen? Und meint er, ein moralischer Mensch zu sein bringt für uns auf unserer
Erdenwanderung mehr oder weniger Probleme?«
    »Sir?« meldete sich Leslie Ann Grew zu Wort. Das war eine ziemlich
überholte Art, mich anzureden; seit Jahren spricht mich hier an der Schule
niemand mehr mit »Sir« an – höchstens eine neue Schülerin. Leslie Ann Grew ist
schon seit Jahren bei uns. »Wenn morgen wieder schönes Wetter ist, könnten wir
dann den Unterricht nicht nach draußen verlegen?« wollte Leslie Ann wissen.
    »Nein«, sage ich; aber ich bin so träge – ich fühle mich so schlapp.
Ich weiß, was ›Die Stimme‹ ihr gesagt hätte.
    »NUR, WENN ES REGNET«, hätte Owen
gesagt, »WENN ES RICHTIG GIESST, DANN KÖNNEN WIR NACH
DRAUSSEN GEHEN.«
    Nach den Herbstferien in unserem zweiten Jahr an der Gravesend
Academy knallte unser gichtkranker Pfarrer – Rev. Mr.   Scammon, der Verwalter
der Konfessionsfreiheit an der Academy und der langweilige Lehrer unserer
Religions- und Bibelstunden – mit dem Kopf auf die vereisten Stufen der Hurd’s
Church und kam nicht wieder zu Bewußtsein. Owen war der Meinung, Rev. Mr.
Scammon sei nie ganz bei Bewußtsein gewesen. Noch Wochen nach seinem Ableben
hingen sein Mantel und sein Spazierstock am Kleiderhaken im Nebenraum der
Kirche – als sei der alte Mr.   Scammon nicht weiter von uns gegangen als bis zur
Toilette [433]  nebenan. Rev. Lewis Merrill hielt
als Vertretung unsere Religions- und Bibelstunden, und es wurde ein Ausschuß
gebildet, der nach einem neuen Geistlichen für unsere Schule Ausschau halten
sollte.
    Owen und ich hatten uns in unserem ersten Jahr gemeinsam durch
Religion I gequält: durch die allumfassenden
Ausführungen des alten Mr.   Scammon zu den großen Religionen der Welt, bei denen
er innerhalb eines Satzes von Caesar zu Eisenhower gelangte. Wir quälten uns
gerade durch Scammons Bibelstunden – und durch Religion II – als die vereisten Stufen der Hurd’s Church sein Schicksal besiegelten. Rev.
Mr.   Merrill brachte sein vertrautes Stottern und seine fast genauso vertrauten
Zweifel in die beiden Unterrichtsstunden mit. Im Bibelunterricht ließ er uns
Beispiele für Jesaja 5,20 suchen: »Weh denen, die Böses gut und Gutes böse
nennen.« In Religion II – einem schwierigen Kurs unter dem
Titel »Religion und Literatur« – sollten wir herausbekommen, was Tolstoi meint,
wenn er in Anna Karenina schreibt: »Er fand keine
Antwort außer jener gewöhnlichen, die das Leben auf alle komplizierten und
unlösbaren Fragen gibt. Diese Antwort lautet: Man muß in den Tag hineinleben,
das heißt sich vergessen.«
    In beiden Stunden predigte Pastor Merrill

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