Owen Meany
seine
Zweifel-ist-die-Grundlage-und-nicht-das-Gegenteil-von-Glauben-Philosophie;
diese Ansicht interessierte Owen jetzt mehr, als sie es einst getan hatte. Das
Geheimnis schien im »Glauben ohne Wunder« zu liegen; ein Glaube, der Wunder
benötigte, war kein Glaube. Fragt nicht nach Beweisen – das war Mr. Merrills
Standardbotschaft.
»ABER EINEN KLEINEN BEWEIS BRAUCHT JEDER«, widersprachOwen Meany.
»Der Glaube an sich ist ein Wunder«, meinte Pastor Merrill. »Das
erste Wunder, an das ich glaube, ist mein eigener Glaube.«
Owen sah ihn zweifelnd an; doch er sagte nichts. Unsere Klasse in
Religion II – und auch die Bibelklasse – war ein
atheistischer Sauhaufen; außer Owen Meany waren wir ein so negativer, [434] anti-alles eingestellter Haufen, daß wir Jack
Kerouac und Allen Ginsberg für interessantere Schriftsteller hielten als
Tolstoi. Und so hatte Rev. Lewis Merrill mit seinem Stottern und seinen
Zweifeln seine liebe Mühe mit uns. Er ließ uns Greenes Die
Kraft und die Herrlichkeit lesen – Owen schrieb sein Referat über das
Thema: »DER WHISKEY-PRIESTER: EIN ZWIELICHTIGER HEILIGER«. Wir
lasen auch das Jugendbildnis von Joyce und Barabbas von Lagerkvist und Die Brüder
Karamasow von Dostojewskij – Owen schrieb mein Referat über: » SÜNDE UND SMERDJAKOW: EINE TÖDLICHE KOMBINATION «.
Der arme Pastor Merrill! Mein früherer Seelsorger fand sich plötzlich in der
Rolle wieder, das Christentum verteidigen zu müssen – und selbst Owen war
dagegen, wie er das tat. Die Klasse war begeistert von Sartre und Camus – das
Konzept der »unerbittlichen Gewißheit eines Lebens ohne Trost« fanden wir
Teenager faszinierend. Rev. Mr. Merrill konterte bescheiden mit Kierkegaard:
»Niemand hat das Recht, andere zu der Ansicht zu verleiten, der Glaube sei
nicht von großer Bedeutung oder eine einfache Sache, wohingegen er doch das
größte und schwierigste aller Dinge ist.«
Owen, der seine Zweifel an Pastor Merrill hatte, fand sich in der
Rolle seines Verteidigers wieder. »NUR WEIL EIN PAAR ATHEISTEN
BESSER SCHREIBEN KÖNNEN ALS DIE LEUTE, DIE DIE BIBEL VERFASST HABEN, HEISST DAS
NOCH LANGE NICHT, DASS SIE AUCH RECHT HABEN!« sagte er
beleidigt. »SEHT EUCH DOCH DIESE SPINNER IM FERNSEHEN AN, DIE
MEINEN, WUNDER VOLLBRINGEN ZU KÖNNEN – SIE WOLLEN, DASS DIE LEUTE AN ZAUBEREI
GLAUBEN! ABER DIE WIRKLICHEN WUNDER KANN MAN NICHT SEHEN – ES SIND DINGE, DIE MAN GLAUBEN MUSS, OHNE
SIE ZU SEHEN. NUR WEIL EIN PREDIGER EIN ARSCHLOCH IST, IST DAS NOCH LANGE KEIN
BEWEIS, DASS GOTT NICHT EXISTIERT!«
»Ja, aber wir wollen doch nicht im Unterricht ›Arschloch‹ sagen,
Owen«, meinte Pastor Merrill.
Und in der Bibelstunde sagte Owen: » NATÜRLICH SIND
DIE [435] JÜNGER BLÖD – NIE VERSTEHEN SIE, WAS
JESUS MEINT, SIE SIND EIN HAUFEN STÜMPER, SIE GLAUBEN NICHT SO SEHR AN GOTT,
WIE SIE ES GERNE TUN WÜRDEN, UND SIE VERRATEN JESUS SOGAR. ES GEHT DOCH DARUM,
DASS GOTT UNS NICHT ETWA DESHALB LIEBT, WEIL WIR SCHLAU SIND ODER GUT. WIR SIND
DUMM UND SCHLECHT, UND GOTT LIEBT UNS TROTZDEM – JESUS HAT DEN SAUDUMMEN
JÜNGERN DOCH GESAGT, WAS GESCHEHEN WIRD. ›DER MENSCHENSOHN WIRD ÜBERANTWORTET
WERDEN IN DIE HÄNDE DER MENSCHEN, UND SIE WERDEN IHN TÖTEN.‹ DAS STEHT BEI MARKUS – STIMMT’S?«
»Ja, aber wir wollen doch nicht im Unterricht ›die saudummen Jünger‹
sagen, Owen«, erwiderte Mr. Merrill; doch obwohl er Schwierigkeiten hatte,
Gottes Heiliges Wort zu verteidigen, schien sich Mr. Merrill – zum ersten Mal,
soweit ich mich entsinnen konnte – wohlzufühlen. Daß sein Glaube angegriffen
wurde, ließ ihn aufleben; er war munterer und nicht mehr so lammfromm.
»ICH GLAUB NICHT, DASS DIE KONGREGATIONALISTEN JE MIT
IHM REDEN«, meinte Owen. »ICH GLAUB, ER
SEHNT SICH NACH GESPRÄCHEN, SELBST WENN ES NUR STREITGESPRÄCHE SIND. WIR REDEN
JEDENFALLS MIT IHM.«
»Ich hab noch keinen Beweis dafür gesehen, daß seine Frau mit ihm redet«, bemerkte Dan Needham. Und die
einsilbigen Äußerungen von Pastor Merrills mürrischen Kindern luden auch nicht
zu tiefergehenden Gesprächen ein.
»WARUM VERSCHWENDET DIE SCHULE IHRE ZEIT MIT ZWEI BERUFUNGSAUSSCHÜSSEN?« fragte
›Die Stimme‹ in der Schülerzeitung The Grave. »SUCHT EINEN DIREKTOR – WIR BRAUCHEN EINEN SCHULLEITER, ABER WIR
BRAUCHEN KEINEN SCHULGEISTLICHEN. OHNE DEN VERSTORBENEN BELEIDIGEN ZU WOLLEN,
IST REV. MR. MERRILL EIN MEHR ALS ADÄQUATER ERSATZ FÜR DEN DAHINGESCHIEDENEN
MR. SCAMMON: EHRLICH GESAGT HÄLT MR. MERRILL EINEN
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