Owen Meany
daran – oder?«
[429] »›Schmerzlich‹?« sagte ich. »Ich liebe meine Großmutter!«
»Ja, das weiß ich«, sagte Dr. Dolder. »Aber diese Sache mit dem
Baseball – das ist doch höchst schwierig, denke ich…«
»Ja!« sagte ich. »Baseball kann ich nicht ausstehen.«
»Ja so«, meinte Dr. Dolder. »Ich habe noch nie ein Spiel gesehen,
deshalb kann ich mir auch nicht genau vorstellen… sollten wir nicht mal zusammen
eins ansehen?«
»Nein«, erwiderte ich. »Ich spiele kein Baseball, und ich schau auch
nicht dabei zu!«
»Ja so«, sagte Dr. Dolder. »So sehr haßt du es, aha!«
»Ich habe Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung«, sagte ich. »Ich
lese langsam, ich werde schnell müde – ich muß mit dem Finger die Zeile
entlangfahren, sonst weiß ich nicht, wo ich bin…«
»Er muß recht hart sein – so ein
Baseball«, sagte Dr. Dolder. »Oder?«
»Ja, das ist richtig«, sagte ich mit einem Seufzer.
»Ja so«, sagte Dr. Dolder. »Bist du jetzt müde? Wirst du müde?«
»Es ist die Rechtschreibung «, wiederholte
ich mit Nachdruck. »Das Schreiben und das Lesen.«
An der Wand in seinem Büro hingen Fotos – alte Schwarzweißfotos der
Uhren an den Kirchtürmen in Zürich; Fotos von den Wasservögeln auf der Limmat
und von Menschen, die die Vögel von den merkwürdig geschwungenen
Fußgängerbrücken aus füttern. Viele dieser Menschen trugen Hüte; man konnte
fast hören, wie die Turmuhren die Stunde schlugen.
Auf Dr. Dolders langem, ziegenartigen Gesicht lag ein fragender
Ausdruck; sein silbrigweißer Bart war sorgfältig gestutzt, doch der Doktor
zupfte oft daran herum.
»Ein Baseball«, sagte er nachdenklich. »Das nächste Mal bringst du
einen Baseball mit – oder?«
»Ja, natürlich«, sagte ich.
[430] »Und der kleine Baseballspieler – ›Die Stimme‹, oder? – mit dem würde ich mich sehr gerne mal unterhalten«,
sagte Dr. Dolder.
»Ich werd Owen fragen, ob er Zeit hat«, sagte ich.
»NICHTS DA«, meinte Owen Meany, als ich
ihn fragte, »ICH HAB KEINE PROBLEME
MIT DER RECHTSCHREIBUNG!«
Toronto, 11. Mai 1987. Ich bedaure es bereits, daß ich genug
Kleingeld hatte, um mir The Globe and Mail aus dem
Kasten an der Straßenecke zu nehmen; ich hatte drei Zehn-Cent-Stücke in der
Tasche, und ein Satz auf der Titelseite erwies sich als unwiderstehlich.
»Unklar war, wie Mr. Reagan die Unterstützung für die Contras weiterlaufen
lassen wollte, ohne die Gesetze zu verletzen.«
Seit wann ist es für Präsident Reagan wichtig, keine »Gesetze zu
verletzen«? Mir wäre am liebsten, auch der Präsident würde ein Wochenende mit
einem Fotomodell aus Miami verbringen; da könnte er wesentlich weniger Unheil
anrichten. Wenn ich mir die Erleichterung der Nicaraguaner vorstelle, selbst
wenn es nur für ein Wochenende wäre! Wir sollten ein Fotomodell für den
Präsidenten suchen, mit dem er jedes Wochenende
verbringen könnte! Wenn wir den alten Opa auslaugen würden, könnte er keinen
Schaden mehr anrichten. Oh, was sind die Amerikaner doch für eine Nation von
Moralisten! Wieviel eifrige Genugtuung es ihnen bereitet, ihr eigenes sexuelles
Fehlverhalten ans Licht zu zerren! Ein Jammer, daß sie ihre moralische
Entrüstung nicht auf die Arroganz anwenden, mit der ihr Präsident sich über das
Gesetz stellt; ein Jammer, daß sie ihren moralischen Eifer nicht über eine
Regierung ergießen, die Waffen an Terroristen liefert. Aber bei Sexskandalen
hat es das Vorstellungsvermögen natürlich leichter, und man kann hier
moralisieren, ohne sich die Mühe zu machen, das politische Geschehen zu
verfolgen – oder sich auch nur darum zu kümmern, was hinter dem sexuellen
Abenteuer steckt.
Heute ist wieder ein sonniger Tag in Toronto; die Obstbäume [431] blühen – vor allem die Birnen- und die
Apfelbäume. Aber es könnte durchaus noch regnen. Owen mochte den Regen. Im
Sommer konnte es tief in einem Granitsteinbruch furchtbar heiß sein, und der
Staub verschlimmerte die Hitze noch; der Regen kühlte die Gesteinsbrocken ab
und hielt den Staub am Boden, » ALLE STEINBRUCHARBEITER MÖGEN REGEN «,
meinte Owen Meany.
Ich trug meinen Oberstufenschülerinnen im Englischunterricht auf,
die erste »Phase« – wie Hardy es genannt hat – von Tess von
den d’Urbervilles noch einmal zu lesen, den Teil mit dem Titel »Das
Mädchen«; obwohl ich sie auf Hardys Vorliebe für Andeutungen aufmerksam gemacht
hatte, waren sie beim Aufspüren dieser Textmerkmale besonders
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