Owen Meany
BESSEREN UNTERRICHT. UND DIE
SCHULE FINDET SEINE REDEGEWANDTHEIT AUF DER KANZEL [436] OFFENSICHTLICH
GUT, DENN SIE HAT IHN SCHON MEHRMALS ALS GASTPREDIGER IN DIE HURD’S CHURCH
EINGELADEN. DER REV. MR. MERRILL WÜRDE EINEN GUTEN SCHULGEISTLICHEN ABGEBEN.
WIR SOLLTEN HERAUSFINDEN, WAS IHM DIE KONGREGATIONALISTEN BEZAHLEN UND IHM MEHR
BIETEN.«
Und so warben sie ihn den Kongregationalisten ab; wieder einmal
verhallte ›Die Stimme‹ nicht ungehört.
Toronto, 12. Mai 1987 – ein kühler, sonniger Tag, ein guter Tag
zum Rasenmähen. Der Duft von frisch gemähtem Gras in der ganzen Russell Hill
Road spiegelt wider, wie verbreitet das Interesse am Rasenmähen unter meinen
Nachbarn ist. Mrs. Brocklebank – deren Tochter Heather eine meiner
Oberstufenschülerinnen ist – näherte sich ihrem Rasen mit einer etwas anderen
Einstellung; als ich an ihrem Haus vorbeikam, war sie gerade damit beschäftigt,
den Löwenzahn samt den Wurzeln herauszureißen.
»Sie sollten es besser genauso machen«, empfahl sie mir. »Es ist
vernünftiger, das Zeug herauszureißen, als es abzumähen. Wenn Sie ihnen mit dem
Rasenmäher die Köpfe abschneiden, kriegen sie nur noch mehr davon.«
»Wie bei Seesternen«, meinte ich; ich hätte wissen müssen, daß es
sich nicht empfiehlt, Mrs. Brocklebank mit einem neuen Thema zu konfrontieren,
es sei denn, man hat zuviel freie Zeit. Von Mrs. Brocklebank hätte ich auf die
Fragen zu Tess sicher sofort die richtigen Antworten
bekommen.
»Was wissen Sie denn über Seesterne?« fragte sie.
»Ich bin an der Küste aufgewachsen, am Meer«, brachte ich ihr in
Erinnerung. Hin und wieder ist es einfach nötig, daß ich meine Mitbürger hier
in Toronto darauf hinweise, daß es den Atlantik und den Pazifik gibt; sie
neigen dazu, die Großen Seen für die einzigen wesentlichen Gewässer auf der
Erde zu halten.
»Ja, und was ist mit den Seesternen?« hakte sie nach.
[437] »Wenn man sie zerschneidet,
werden es nur mehr Seesterne«, erklärte ich.
»Wird das in einem Buch beschrieben?« erkundigte sich Mrs.
Brocklebank. Ich bestätigte ihr, daß dies der Fall sei. Ich besitze sogar ein
Buch, in dem das Leben der Seesterne beschrieben wird, doch Owen und ich wußten
schon lange, bevor wir etwas über sie gelesen hatten, daß man sie nicht
zerschneiden darf; jedes Kind in Gravesend lernt am Strand von Little Boar’s
Head alles über Seesterne. Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mutter Owen
und mir gesagt hat, wir sollten sie nicht zerschneiden; Seesterne sind sehr
zerstörerische Wesen, und in New Hampshire vermeidet man es, ihre
Vermehrungsfähigkeit zu fördern.
Mrs. Brocklebank ist hartnäckig, wenn es darum geht, etwas Neues zu
erfahren; sie jagt jeder Neuigkeit ebenso aggressiv hinterher wie dem Löwenzahn
in ihrem Garten. »Das Buch würde ich gern mal sehen«, verkündet sie.
Und so begann ich ein weiteres Mal mit etwas, das mir bereits zur
Gewohnheit geworden war: sie davon abzubringen, auch dieses Buch zu lesen – mein Versuch, ihr das auszureden, ist genauso mühsam und von genauso wenig
Erfolg gekrönt wie die Versuche, meine Schülerinnen dazu zu bringen, die Werke,
die wir im Unterricht besprechen, auch zu lesen.
»Es ist kein besonders gutes Buch«, versuchte ich es. »Ein
Billigdruck, von einem Amateurbiologen geschrieben.«
»Und was ist falsch daran, wenn ein Amateur ein Buch schreibt?«
wollte Mrs. Brocklebank wissen. Wahrscheinlich schreibt sie selber gerade eins,
kommt mir jetzt in den Sinn. »Und was haben Sie gegen Billigdrucke?« fragte sie
weiter.
Das Buch, in dem die Wahrheit über Seesterne steht, heißt Leben im Wechsel der Gezeiten, geschrieben von Archibald
Thorndike. Der alte Thorny war Amateurbiologe und Amateurtagebuchautor, und
nachdem er in Pension gegangen war und nicht mehr an der Gravesend Academy
unterrichtete, verbrachte er zwei [438] Jahre
damit, ein Stück Watt bei Rye Harbor zu untersuchen; dann veröffentlichte er
auf eigene Kosten ein Buch darüber und verkaufte bei jedem Ehemaligentreffen handsignierte
Exemplare davon. Er parkte seinen großen Kombi bei den Tennisplätzen und
verkaufte die Bücher aus dem Kofferraum, hielt dabei mit allen Ehemaligen, die
mit ihm reden wollten, ein Schwätzchen; da er ein sehr beliebter Direktor
gewesen war – und von einem sehr unbeliebten abgelöst wurde –, wollten fast
alle Ehemaligen mit dem alten Thorny reden. Ich glaube, er hat nicht wenig
Exemplare von Leben im Wechsel der Gezeiten an
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