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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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den
Mann gebracht; möglicherweise hat er sogar etwas Geld damit verdient. Vielleicht
war er doch kein so völlig unbeleckter Amateur. Er wußte zumindest, wie man mit
der ›Stimme‹ umgehen mußte – man mußte sie einfach in Ruhe lassen. Und ›Die
Stimme‹ sollte schließlich das Schicksal des neuen Schulleiters besiegeln.
    Und ich gab schließlich Mrs.   Brocklebanks Bildungshunger nach; ich
versprach ihr, ich würde ihr mein Exemplar von Leben im
Wechsel der Gezeiten leihen.
    »Vergessen Sie nicht, Heather daran zu erinnern, daß sie die erste
›Phase‹ von Tess noch einmal liest«, trug ich Mrs.   Brocklebank
auf.
    »Liest Heather etwa nicht, was Sie ihr aufgeben?« fragte Mrs.
Brocklebank beunruhigt.
    »Es ist Frühling«, gab ich ihr zu bedenken. » Keines der Mädchen liest, was ich ihnen aufgebe. Heather arbeitet ganz gut mit.«
Heather Brocklebank gehört wirklich zu den Besseren in der Klasse; sie hat den
Eifer ihrer Mutter geerbt – und zugleich reicht ihre Vorstellungskraft weit
über den Löwenzahn im eigenen Garten hinaus.
    Plötzlich kommt mir eine Idee: Ich werde mit meinen
Oberstufenschülerinnen einen unangekündigten Test machen; wenn sie die erste
›Phase‹ von Tess nur überflogen haben, hat sicher
keine von ihnen die Einführung auch nur angelesen – und die hatte ich [439]  ihnen ebenfalls aufgegeben; das mache ich nicht
    bei jedem Werk, aber die Einführung von Robert B. Heilman ist für Leser, die
mit Hardy noch nicht vertraut sind, besonders hilfreich. Ich wüßte eine
wirklich fiese Testfrage! denke ich – und schaue dabei auf Mrs.   Brocklebank,
die ihre Löwenzahnleichen in der Hand zusammenpreßt.
    »Welchen Titel hatte Hardy für Tess ursprünglich vorgesehen?«
    Ha! Das können sie nicht erraten; wenn sie die Einführung gelesen
hätten, wüßten sie, daß der Roman ursprünglich Zu spät
geliebt heißen sollte – an das »zu spät« würden sie sich auf jeden Fall
erinnern. Dann erinnerte ich mich daran, daß Hardy – vor Tess – eine Geschichte geschrieben hatte, die
»Die romantischen Abenteuer einer Milchmagd« hieß; ich fragte mich, ob ich den
Titel einbringen konnte, um sie zu verwirren. Dann erinnerte ich mich daran, daß Mrs.   Brocklebank mit einer Handvoll Löwenzahn am
Bürgersteig stand und darauf wartete, daß ich ihr Leben im
Wechsel der Gezeiten holte. Und ganz zuletzt erinnerte ich mich, wie
Owen Meany und ich Tess von den d’Urbervilles in
unserem zweiten Jahr an der Gravesend Academy zum ersten Mal gelesen hatten; es
war im Winter 1960, in Englisch hatten wir Mr.   Early, und die
Auseinandersetzung mit Thomas Hardy ließ mich beinahe in Tränen ausbrechen. Es
war dumm von Mr.   Early, Tess schon in diesem Jahr
durchzunehmen. An der Bishop Strachan School hatte ich eine lange
Auseinandersetzung mit meinen Kollegen darüber, ob wir Hardy nicht erst in der
letzten Klasse durchnehmen sollten – ich finde, selbst – wie jetzt – in der
vorletzten Klasse ist es zu früh! Sogar Die Brüder Karamasow sind einfacher als Tess !
    Ich weiß noch, wie ich zu Owen sagte: »Das kann ich nicht lesen!« Er
versuchte mir zu helfen; das schaffte er bei allem andern, aber Tess war einfach zu schwierig. »Ich kann keine Geschichte
übers Kühemelken lesen!« schrie ich.
    [440]  »ES GEHT GAR
NICHT UMS KÜHEMELKEN«, meinte Owen böse.
    »Worum’s darin geht, ist mir völlig gleich; ich kann’s jedenfalls
nicht ausstehen«, entgegnete ich.
    »DAS IST EINE WIRKLICH INTELLIGENTE EINSTELLUNG«, sagteOwen darauf. »WENN DU’S
NICHT LESEN KANNST, HÄTTEST DU DANN GERNE, DASS ICH ES DIR LAUT VORLESE?«
    Mir ist diese Erinnerung äußerst peinlich: daß er sogar das für mich getan hätte – daß er mir Tess von
den d’Urbervilles vorgelesen hätte! Damals brachte mich bereits der
Gedanke daran, den ganzen Roman in seiner Stimme zu hören, aus dem
Gleichgewicht.
    »Ich kann es nicht lesen, und ich kann es mir auch nicht anhören«,
entgegnete ich.
    »FEIN«, meinte Owen. »DANN ERZÄHL DU MIR, WAS ICH TUN SOLL. ICH KANN DIR DIE GANZE
GESCHICHTE ERZÄHLEN, ICH KANN DEIN REFERAT FÜR DICH SCHREIBEN – UND WENN DU
DARÜBER GEPRÜFT WIRST, MUSST DU DICH EBEN DURCHMOGELN, SO GUT ES GEHT: WENN ICH
DIR DIE GANZE GESCHICHTE ERZÄHLE, ERINNERST DU DICH VIELLEICHT AN DIE
WESENTLICHEN EINZELHEITEN. DIE FRAGE IST, SOLL ICH DIR DEINE HAUSARBEITEN
MACHEN – DAS IST NICHT SCHWER FÜR MICH UND ICH TU’S GERNE – ODER SOLL ICH DIR
BEIBRINGEN, SIE SELBST ZU MACHEN? DAS WÄRE

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