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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Beifall. »STELLEN SIE
DIE UHR AUF DREI SEKUNDEN!« sagte Owen zu ihm.
    »Lieber Himmel!« entfuhr es mir.
    »WENN WIR ES UNTER VIER SEKUNDEN SCHAFFEN, DANN
SCHAFFEN WIR ES AUCH UNTER DREI«, gab er ungerührt zurück. »WIR MÜSSEN NUR EIN BISSCHEN MEHR GLAUBEN HABEN.«
    »Wir müssen mehr üben «, korrigierte ich
ihn gereizt.
    »GLAUBEN MUSS MAN ÜBEN«, erwiderte Owen
Meany.
    Neunzehnhunderteinundsechzig war das erste Jahr, in dem unsere
Freundschaft durch unfreundliche Kritik und Streitigkeiten getrübt wurde. Unsere
grundlegendste Auseinandersetzung begann im Herbst 1961, als unser letztes
Schuljahr an der Gravesend Academy anfing, und eines der Privilegien der
Schüler der Abschlußklasse war der Grund für einen Streit, nach dem wir uns
beide besonders unwohl fühlten. Als Abschlußkläßler war uns erlaubt, mittwochs
oder samstags nachmittags mit dem Zug nach Boston zu fahren; an diesen
Nachmittagen hatten wir keinen Unterricht; und wenn wir im Büro des Dekans
Bescheid gaben, wohin wir gehen wollten, brauchten wir erst um zehn Uhr abends
mit dem Boston & Maine zurückzukommen. Da wir
keine Internatsschüler waren, brauchten Owen und ich eigentlich erst wieder bei
der Morgenversammlung am Donnerstag da zu sein – beziehungsweise beim
Sonntagsgottesdienst in der Hurd’s Church, wenn wir samstags nach Boston
fuhren.
    Selbst samstags runzelten Dan und meine Großmutter die Stirn
angesichts der Tatsache, daß wir den größten Teil der Nacht in der
»gefürchteten« Stadt verbringen wollten; von Boston fuhr um zwei Uhr nachts ein
Bummelzug – der in jedem Dorf zwischen Boston und
Gravesend anhielt, so daß wir erst morgens um halb sieben ankamen (etwa zu der
Zeit, als die Mensa für das Frühstück geöffnet wurde) – doch Dan und meine
Großmutter fanden, [478]  Owen und ich sollten uns
nur zu ganz besonderen Anlässen derart »wild herumtreiben«. Mr.   und Mrs.   Meany
machten Owen keinerlei Vorschriften; Owen hatte nichts dagegen, sich den
Vorschriften zu fügen, die Dan und meine Großmutter mir machten.
    Doch er hatte sehr wohl etwas dagegen, seine Zeit in der
gefürchteten Stadt so zu verbringen, wie es die meisten Schüler aus Gravesend
taten. Viele Absolventen der Gravesend Academy gingen zum Studium nach Harvard.
Der typische Ausflug eines Academy-Schülers begann mit einer U -Bahn-Fahrt zum Harvard Square; dort kauften sie dann – mit Hilfe eines gefälschten Wehrpasses oder eines ehemaligen Schülers der
Academy (der jetzt in Harvard studierte) jede Menge Sprit und konsumierten ihn mit Hingabe. Manchmal – leider nur selten – schloß man
Bekanntschaft mit Mädchen. Bestärkt durch ersteres
(und nie in Begleitung von letzteren) fuhr unsereins
dann zurück in die Innenstadt, wo man sich – wiederum unter falscher
Altersangabe – Einlaß zu den von meinen Altersgenossen hochgeschätzten
Stripteaseshows verschaffte, die in einem Etablissement namens Old Freddy’s dargeboten wurden.
    Im Verlauf dieses Rituals bekam ich nie etwas Anstößiges zu sehen.
Mit neunzehn war ich noch immer Jungfrau. Caroline O’Day hatte mir nicht einmal
ein Herumtasten mit der Hand zugestanden – jedenfalls nicht weiter als ein paar
Zentimeter über den Saum ihres Faltenrockes oder ihre dazu passenden
burgundroten Kniestrümpfe. Und obwohl Owen mir gesagt hatte, daß Carolines
diesbezügliche Zurückhaltung nur darin begründet sei, daß sie katholisch war – » NOCH DAZU IN IHRER SAINT MICHAEL’S SCHULUNIFORM !« – hatte ich auch bei Polizeichef Ben Pikes Tochter Lorna, die nicht katholisch
war und auch keinerlei Schuluniform trug, als ich mich mit den Lippen in ihrer
Zahnspange verfing, keinen größeren Erfolg. Offensichtlich stieß sie entweder
mein Blut oder mein Schmerzensschrei – oder beides – ab. Mit neunzehn war das
Erlebnis von Wollust – selbst in seiner [479]  schäbigsten
Form im Stripteaselokal Old Freddy’s – immerhin ein
Erlebnis, wenn auch ein fragwürdiges; und wenn Owen und ich uns im Idaho, dem Kino von Gravesend, zum ersten Mal vorgestellt
hatten, was Liebe ist, so fand ich nichts Schlimmes dabei, in einer
Stripteaseshow Wollust zu empfinden. Owen, so dachte ich, war keine Jungfrau mehr; wie hätte er es bei Hester bleiben
können? Und so fand ich es scheinheilig von ihm, Old
Freddy’s als WIDERWÄRTIG und ENTWÜRDIGEND zu bezeichnen.
    Mit neunzehn trank ich ab und zu etwas Alkohol – und sei es nur, um
das erhebende Gefühl des Erwachsenseins, das sich mit zunehmender

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