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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Trunkenheit
einstellte, zu kosten. Doch Owen Meany trank nie; es widerstrebte ihm, nicht
mehr alles unter Kontrolle zu haben. Außerdem hatte er Kennedys Antrittsrede – seine Forderung, etwas für das eigene Land zu tun – auf eine typisch konsequente und wörtliche Weise interpretiert. Er fälschte
keine Wehrpässe mehr; er produzierte keine falschen Ausweise mehr, damit seine
Altersgenossen an alkoholische Getränke und in Stripteaseshows gelangen konnten – und diese Entscheidung tat er lautstark und selbstgefällig kund. Gefälschte
Wehrpässe waren SCHLECHT , hatte er entschieden.
    Deshalb liefen wir nüchtern über den Harvard Square – ein Teil von
Cambridge, der durch die Nüchternheit des Betrachters nicht notwendigerweise an
Reiz gewinnt. Nüchtern betrachteten wir unsere ehemaligen Schulkameraden von
der Academy – und nüchtern stellte ich mir vor, wie
Harvard sein würde (und wie es moralisch verändert würde), wenn Owen dort
studierte. Einer unserer früheren Klassenkameraden sagte uns sogar, Harvard sei
ein deprimierendes Erlebnis – in nüchternem Zustand. Doch Owen bestand darauf,
daß unsere Reisen in die gefürchtete Stadt als freudlose Erkundungen
durchgeführt wurden; und so geschah es auch.
    Nüchtern zu bleiben und die Stripteaseshows im Old Freddy’s anzusehen war eine richtiggehende Tortur; die Tänzerinnen [480]  konnte man nur in volltrunkenem Zustand ertragen.
Da Owen die Wehrpässe für sich und mich vor seinem erhabenen, von Kennedy
inspirierten Entschluß, das Gesetz nicht mehr zu brechen, gefälscht hatte,
verschafften wir uns mit ihnen Eingang zu Old Freddy’s.
    »DAS IST WIDERWÄRTIG!« meinte Owen.
    Wir sahen eine vierzigjährige Frau mit großen Brüsten, die die
Plastiksternchen auf ihren Brustwarzen mit den Zähnen entfernte und dann ins
begeisterte Publikum spuckte.
    »DAS IST ENTWÜRDIGEND!« fand Owen.
    Wir sahen eine andere unglückliche Frau, die eine Mandarine von der
schmutzigen Bühne aufhob; sie nahm die Mandarine mit den Schamlippen auf und
hob sie hoch bis auf Kniehöhe – höher ging es nicht. Dann konnte sie die Mandarine
nicht mehr festhalten, und sie rollte von der Bühne hinab in die Menge – wo
sich zwei oder drei unserer Schulkameraden darum balgten. Natürlich war es WIDERWÄRTIG und ENTWÜRDIGEND – schließlich waren wir nüchtern!
    »SUCHEN WIR NACH EINEM SCHÖNEREN TEIL DER STADT«, schlug
Owen vor.
    »Und was sollen wir da?« fragte ich.
    »IHN ANGUCKEN«, gab Owen zurück.
    Heute kommt es mir vor, als wären die meisten meiner
Klassenkameraden aus Gravesend damit aufgewachsen, sich schöne Stadtviertel
anzusehen; doch einmal abgesehen von stärkeren Beweggründen wollte Owen Meany
wissen, wie das war.
    Und so landeten wir schließlich in der Newbury Street – an einem
Mittwochnachmittag im Herbst 1961. Heute weiß ich, daß es KEIN ZUFALL war, daß wir dort landeten.
    Es gab einige Kunstgalerien in der Newbury Street – einige sehr
exklusive Geschäfte, die teure Antiquitäten verkauften, und ein paar vornehme
Kleidungsgeschäfte. Um die Ecke, in der Exeter Street, war ein Kino, in dem ein
ausländischer Film lief – [481]  nicht die Art
Film, wie sie in der Nähe von Old Freddy’s liefen; im Exeter liefen Filme, bei denen man lesen mußte, Filme mit Untertiteln.
    »Meine Güte!« sagte ich. »Was sollen wir denn hier?«
    »DU BIST SO UNACHTSAM «,
gab Owen zurück.
    Er schaute auf eine Schaufensterpuppe in einem Geschäft – auf eine
erschreckend ausdruckslose Schaufensterpuppe, hypermodern für ihre Zeit, da sie
keine Haare hatte. Die Puppe trug eine Seidenbluse, die ihr bis zu den Hüften
reichte; die Bluse war feuerwehrrot und ganz auf Figur geschnitten. Sonst trug sie
nichts; Owen starrte sie an.
    »Ist ja toll«, sagte ich. »Wir sind jetzt zwei Stunden mit dem Zug
gefahren – und wir müssen wieder zwei Stunden zurückfahren – nur damit du eine Schneiderpuppe angucken kannst! Wenn das alles ist, was du
hier willst, dann kannst du auch in deinem Schlafzimmer bleiben!«
    »KOMMT DIR NICHTS BEKANNT VOR?« fragte
er mich.
    Der Name des Geschäfts, »Jerrold’s«, stand in leuchtend roten
Buchstaben auf dem Schaufenster – in einer geschwungenen Handschrift.
 

    »Jerrold’s«, sagte ich. »Na und? Was soll mir dabei bekannt
vorkommen?«
    Er steckte seine kleine Hand in die Hosentasche und zog das Etikett
hervor, das er von dem alten roten Kleid meiner Mutter abgetrennt hatte;
eigentlich war es das rote Kleid der

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