Owen Meany
ADÄQUATEN Grabstein zufrieden. Dem Geschmack des
Verstorbenen wurde Rechnung getragen; Größe, Form und Farbe des Grabsteines
waren bei weitem nicht alles, was wichtig war; Owen wollte auch den Geschmack
der Trauernden kennenlernen, die diesen Grabstein mehr als einmal ansehen
würden. Ich sah nicht einen Kunden, der mit dem Endprodukt unzufrieden gewesen
wäre – ich habe allerdings auch nie sehr viele Kunden
gesehen.
[606] »SEI NICHT SO
EITEL «, meinte er, wenn ich mich über die Länge meiner Lehrzeit
im Grabsteinladen beschwerte. » WENN DU GANZ UNTEN IM STEINBRUCH
STEHST UND DARAN DENKST, WIE SCHÖN BRAUN DU JETZT WIRST – ODER AN DEINE BLÖDEN
MUSKELN –, DANN HAST DU SCHNELL ZEHN TONNEN GRANIT AUF DIR LIEGEN. AUSSERDEM
FINDET MEIN VATER, DASS DU DICH HIER IM LADEN GANZ TOLL MACHST.«
Doch ich glaube nicht, daß Mr. Meany überhaupt mitbekam, was ich
konkret im Laden arbeitete; erst im August kam Mr. Meany in den Laden und sah
mich überrascht an – doch er sagte immer das gleiche, egal wann und wo er mich
sah. »Sieh mal an, da haben wir ja den Johnny Wheelwright!« meinte er immer.
Und wenn es nicht regnete – oder wenn Owen nicht mit einem Kunden
verhandelte –, kam er nur in den Laden, wenn ein besonders schwieriges Stück in
Auftrag gegeben wurde, wenn ein besonders komplizierter Grabstein zu schneiden
war, eine anspruchsvolle Form, viele enge Kurven und scharfe Winkel und so
weiter. Doch die eingesessenen Gravesend-Familien waren angesichts des Todes
unkompliziert und wortkarg; nur selten wurden ausgefallene Stücke bestellt, und
noch seltener Bogengänge mit Kapitellen. Das war schade, denn wenn man Owen bei
der Arbeit mit der Diamanttrennscheibe beobachtete, dann konnte man einem
Künstler beim Werk zusehen. Niemand konnte so geschickt mit der Trennscheibe
umgehen wie Owen Meany.
Eine Diamanttrennscheibe ist so ähnlich wie eine Kreissäge, eine
Holzsäge, die ich vom Sägewerk meines Onkels her kannte; eine
Diamanttrennscheibe ist eine Tischsäge, doch das Sägeblatt, die Scheibe, ist
nicht am Arbeitstisch befestigt – die mit Diamanten besetzte Scheibe befindet
sich in einer Halterung und wird auf den Tisch
herabgelassen. Sie hat einen Durchmesser von etwa fünfzig Zentimetern und ist
mit Diamantsegmenten beschlagen – das sind winzige Diamantstücke, einen
Zentimeter lang und einen halben Zentimeter breit. Wenn die Scheibe auf den
Granit [607] herabgelassen wird, durchschneidet
sie den Stein, der auf einem Holzblock liegt, in einem vorher eingestellten
Winkel. Die Scheibe ist sehr scharf und schneidet exakt und sauber; sie ist das
perfekte Werkzeug, um die exakten, sauber geschnittenen Ecken der Grabsteine
herzustellen – sie ist wie ein Skalpell und macht keine Fehler beziehungsweise
nur die des Benutzers. Im Vergleich zu anderen Sägen in der Granitbranche ist
dieses Werkzeug so fein und zierlich, daß es nicht einmal als Säge bezeichnet
wird – es wird »Diamanttrennscheibe« genannt. Es durchdringt den Granit so
leicht, daß sein Geräusch weitaus weniger schnarrend klingt als das vieler
motorgetriebener Holzsägen – eine Diamanttrennscheibe erzeugt einen einzigen,
schrillen Schrei – herzzerreißend. Owen Meany meinte: »UNTER EINER
DIAMANTTRENNSCHEIBE KLINGT EIN GRABSTEIN, ALS WÜRDE ER MITTRAUERN.«
Wenn man bedenkt, wieviel Zeit er in diesem düsteren Grabsteinladen
in der Water Street zubrachte, umgeben von Grabsteinen mit den noch nicht
fertiggestellten Namen der Verstorbenen – ist es da ein Wunder, daß er auf
Scrooges Grab seinen eigenen Namen und sein eigenes Todesdatum GESEHEN hat? Nein; es ist ein Wunder, daß er solche
Schreckensbilder nicht tagtäglich gesehen hat! Und
wenn er diese komische Schutzbrille aufsetzte und die Trennscheibe in die
richtige Schneideposition brachte, muß ihn der konstante, schrille Schrei der
Scheibe an den, um es mit Mr. McSwineys Worten zu sagen, »permanenten Schrei«
erinnert haben, an seine eigene Stimme, die sich nicht veränderte. Und nach
meinem Sommer im Grabsteinladen konnte ich verstehen, was Owen Meany an der
Stille in Kirchen, am Frieden der Gebete, am wohlklingenden Tonfall der
Kirchenlieder und Litaneien so fesselte – und selbst am simplen, athletischen
Ritual beim Üben des Dunking.
Was den Rest des Sommers 1963 anbelangte – als sich die Buddhisten
in Vietnam anzündeten und als Kennedy die Zeit [608] davonlief –, da arbeitete Hester wieder als Kellnerin in einem Hummerlokal.
»Völlig für
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