Owen Meany
Artikeln. Man stelle sich vor – Larry Lish hat sich zum Moralisten gewandelt!
Ich möchte wissen, was aus seiner Mutter geworden ist. Wenn [599] sie – ehe es zu spät dazu war – an den Richtigen
geraten ist und ihn geheiratet hat, dann ist heute vielleicht auch Mitzy Lish
Moralistin!
Im Herbst 1962, als Owen Meany und ich unser Studium an der
University of New Hampshire aufnahmen, hatten wir gewisse Vorteile, durch die
wir uns von unseren weniger erfahrenen Altersgenossen abhoben. Wir brauchten
uns nicht den Vorschriften im Studentenwohnheim zu beugen, denn wir wohnten zu
Hause – wir pendelten zwischen Durham und Gravesend und durften unsere Autos
auf dem Campus parken, was den anderen Erstsemestern nicht erlaubt war. Ich
verbrachte meine Freizeit abwechselnd bei Großmutter und bei Dan; dies hatte
den zusätzlichen Vorteil, daß ich, wenn eine ausgiebige Party in Durham
anstand, Dan erzählen konnte, ich würde bei meiner Großmutter übernachten, und
Großmutter, ich würde bei Dan schlafen – und überhaupt nicht nach Hause zu kommen brauchte! Owen mußte nie zu einer festgesetzten Zeit
zu Hause sein; da er im Sommer jede Nacht in Hesters Wohnung geschlafen hatte,
war ich überrascht, daß er überhaupt noch nach Hause fuhr. Doch Hesters
Mitbewohnerinnen waren wieder zurück; wenn Owen jetzt bei Hester übernachtete,
dann stand außer Frage, in welchem Bett er die Nacht verbrachte – ob Hester und
er »es« nun taten oder nicht, sie waren zumindest die intime Nähe gewöhnt, die
Hesters Bett ihnen aufzwang. Doch als die Uni begann, übernachtete Owen nicht
öfter als ein- oder zweimal die Woche bei ihr.
Auch sonst hatten wir einige Vorteile gegenüber unseren
Kommilitonen. Wir waren durch die harte Schule der Gravesend Academy gegangen;
im Vergleich dazu waren die Kurse an der University of New Hampshire lasch. Ich
profitierte sehr davon, da ich – wie Owen mir klargemacht hatte – meist etwas
länger brauchte, um meine Arbeit zu erledigen. Und wir hatten so viel weniger zu tun als an der Academy, daß ich – endlich
einmal – jede Menge Zeit [600] hatte. Ich bekam
gute Noten, und zwar ohne allzu große Anstrengung, und zum ersten Mal – obwohl
das noch zwei, drei Jahre dauern sollte – betrachtete ich mich als »clever«. Doch
auf Owen Meany wirkten sich die verhältnismäßig niedrigen Anforderungen der
Universität ganz anders aus.
Er schaffte alles, ohne sich großartig anstrengen zu müssen, und das
machte ihn faul. Rasch gewöhnte er sich an, nur noch die Mindestleistungen zu erbringen,
die er für sein ROTC -Stipendium nachweisen mußte; zu
meiner Überraschung erbrachte er seine besten Leistungen in den ROTC -Kursen – den sogenannten Militärwissenschaften.
Wir belegten viele Kurse gemeinsam; in Englisch und Geschichte bekam ich sogar
bessere Noten als Owen – ›Die Stimme‹ legte keinen Wert mehr auf ihren Stil!
»ICH ENTWICKLE MICH ZUM MINIMALISTEN «,
erklärte er unserem Englischdozenten, der sich darüber beschwert hatte, daß
Owen in seinen Referaten nie auch nur eine These genauer beleuchtete; er
brachte nie mehr als ein Beispiel für jeden Punkt, den er anführte. » ERST SAGEN SIE MIR, ICH DARF NICHT MIT GROSSBUCHSTABEN SCHREIBEN,
UND JETZT WOLLEN SIE, DASS ICH MEINE THESEN ›ELABORIERE‹ – DASS ICH
›AUSFÜHRLICHER‹ WERDE. IST DAS ETWA KONSEQUENT?« fragte er
unseren Englischdozenten. »SOLL ICH VIELLEICHT AUCH MEINE PERSÖNLICHKEIT
ÄNDERN?«
Wenn ›Die Stimme‹ an der Gravesend Academy die Mehrzahl der Lehrer
schon überzeugt hatte, daß seine exzentrischen Eigenheiten nicht nur sein Recht
als Individuum, sondern auch untrennbar von seiner allgemein anerkannten
Brillanz waren, so waren die vielseitigeren, gleichzeitig jedoch auch
spezialisierteren Lehrkräfte an der University of New Hampshire nicht an der
»Entwicklung des ganzen jungen Menschen« interessiert, ganz und gar nicht; die
Lehrkräfte an der Universität waren nicht einmal eine richtige Gemeinschaft,
sie waren nicht einhellig der Meinung, Owen Meany sei brillant, sie drückten
nicht einhellig ihre [601] Besorgnis aus, sein
Recht als Individuum müsse geschützt werden, und für exzentrische Eigenheiten
brachten sie kein Verständnis auf. Ihre Lehrveranstaltungen zielten nicht auf
die geistige Entwicklung der Studenten ab; ihr Interesse galt ausschließlich
ihrem jeweiligen Spezialgebiet – ihre Leidenschaft der Universitätspolitik oder
den Fachbereichsangelegenheiten –, und ihrer
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