Owen Meany
hören ließ – nach seinem Tod. Das zweite Mal war diesen August, als er
mich – wie um mir in Erinnerung zu rufen, daß er niemals zulassen würde, daß
mir etwas Schlimmes zustieß – davor [750] bewahrte,
die Kellertreppe im Geheimgang hinunterzufallen. Und ich weiß genau: Ich werde – von Zeit zu Zeit – immer wieder von ihm hören. Das ist typisch für Owen, der
stets zuviel des Guten getan hat; es sollte ihm klar sein, daß ich nicht immer
wieder von ihm hören muß, um zu wissen, daß er da ist. Wie bei seinem rauhen,
grauen Ersatz für Maria Magdalena, der Statue, von der Owen sagte, sie sei wie
der Gott, von dem er wisse, daß er da ist – auch im
Dunkeln, auch wenn man ihn nicht sieht – habe ich keinen Zweifel, daß Owen da
ist.
Owen hatte mir versichert, Gott würde mir sagen, wer mein Vater war.
Ich hatte immer vermutet, Owen würde es mir sagen – er hatte sich immer viel mehr dafür interessiert als ich. Es erstaunt mich nicht, daß Gott sich Owens Stimme
bediente, als er die Zeit für gekommen hielt, mir zu eröffnen, wer mein Vater
war.
»SCHAU IN DIE DRITTE SCHUBLADE RECHTS« , sagte Gott.
Und da lag der Ball, den Owen Meany geschlagen hatte; und da saß
mein erbärmlicher Vater und bat mich, ihm zu vergeben.
Es ist mein wesentlicher Eindruck von den letzten zwanzig Jahren,
daß wir eine Zivilisation sind, die auf eine Folge von Tiefpunkten zusteuert – auf zahllose unbefriedigende und unangenehme Resultate unseres Handelns. Die
absolut unbefriedigende und unangenehme Neuigkeit, daß Rev. Lewis Merrill mein
Vater war – ganz zu schweigen von Owen Meanys Tod –, ist nur ein Beispiel für
diesen Zustand universeller Enttäuschung.
Was meinen jämmerlichen Vater anging, so wurde meine Enttäuschung
noch durch die Hartnäckigkeit gesteigert, mit der er sich einzugestehen
weigert, daß Owen Meany es – aus dem Grab heraus – geschafft hatte, mir seine
Identität zu enthüllen. Das war wieder so ein Wunder, für das es meinem Vater
an Glaubensstärke fehlte. Es war ein erregender Augenblick gewesen; ich wurde – wie ich selbst zugeben muß – allmählich ein Fachmann für die Imitation von
Owens Stimme. Überdies hatte Mr. Merrill schon [751] immer
den Wunsch verspürt, mir zu sagen, wer er war; es hatte ihm einfach an Mut
gefehlt; vielleicht hatte er den dadurch gefunden, daß er eine andere als die
eigene Stimme benutzte. Er hatte mir auch den Baseball schon längst zeigen
wollen, gab er zu – »als Geständnis«.
Rev. Lewis Merrill hatte sich von seinem Glauben so stark
intellektuell distanziert, brachte das notwendige Maß an Enthusiasmus, das der
Glaube fordert, so lange schon nicht mehr auf, daß er ein kleines, aber
eindeutiges Wunder nicht als solches akzeptieren konnte, ein Wunder, das sich
nicht nur in seiner Gegenwart ereignete, sondern sogar durch seine Lippen
Ausdruck fand, von seiner eigenen Hand ausgeführt wurde – die mit einer Kraft,
die nicht die ihre war, die dritte Schublade rechts an seinem Schreibtisch
geradewegs herausgerissen hatte. Da saß ein ordinierter Pfarrer der
kongregationalistischen Kirche, ein Pastor und ein Sprecher der Gläubigen, und erzählte
mir, das Wunder des Ertönens von Owen Meanys Stimme hier im Pfarrbüro – ganz zu schweigen von der beeindruckenden Enthüllung der
sogenannten »Mordwaffe«, des »Todeswerkzeugs«, das meine Mutter hingestreckt
hatte – sei nicht so sehr eine Demonstration der
Macht Gottes als vielmehr ein Hinweis auf die Macht des Unterbewußtseins; Rev.
Mr. Merrill meinte nämlich, uns hätte alle beide unser Unterbewußtsein
motiviert – mich dazu, Owen Meanys Stimme zu benutzen beziehungsweise Mr.
Merrill sie benutzen zu lassen; und ihn dazu, mir zu beichten, daß er mein
Vater war.
»Sind Sie Pfarrer oder Psychiater?« fragte ich ihn. Er war völlig
durcheinander. Es hätte ebensogut Dr. Dolder sein können, mit dem ich sprach!
Und wie so vieles in den letzten zwanzig Jahren: es wurde noch
schlimmer. Rev. Mr. Merrill beichtete mir, daß er überhaupt keinen Glauben mehr
besaß; er habe ihn verloren, als meine Mutter starb, erklärte er. Damals hatte
Gott aufgehört, sich ihm mitzuteilen; und er, Rev. Lewis Merrill, hatte
aufgehört, Gott darum zu [752] bitten, sich ihm
mitzuteilen. Mein Vater hatte bei jenem Baseballspiel auf einer der Holzbänke
gesessen, und als er meine Mutter unbekümmert hinter der dritten Base an der
Spielfeldbegrenzung entlangschlendern sah – als sie ihn auf der
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