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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Techtelmechtel« zu nennen.
Kurzum, Tabitha Wheelwright kam recht schnell über die Sache mit Lewis Merrill
hinweg; und sie zeigte sich der Aufgabe, sein uneheliches Kind aufzuziehen, auf
mehr als stoische Weise gewachsen. Die Absichten meiner Mutter waren immer
klar, nie verschwommen; ich glaube nicht, daß sie sich sonderlich mit
Schuldgefühlen gequält hat. Mr.   Merrill dagegen suhlte sich in Schuldgefühlen;
seine Gewissensbisse waren schließlich alles, woran er sich klammern konnte – besonders, nachdem ihn sein ohnehin spärlicher Mut gänzlich verlassen hatte und
er sich eingestehen mußte, daß er es nie fertigbringen würde, seine
bedauernswerte Frau und seine Kinder wegen meiner Mutter zu verlassen.
Natürlich quälte er sich weiter mit der selbstzerstörerischen Vorstellung, er
liebe meine Mutter. Ich vermute, daß seine »Liebe« zu ihr im gleichen Ausmaß
rational von seinem Fühlen und Handeln abgehoben war, wie sein »Glaube« seiner
ungeheuren Fähigkeit zu weithergeholten und unrealistischen Interpretationen
unterlag. Meine Mutter war ein robusteres Wesen; als er sagte, er werde nicht
wegen ihr seine Familie verlassen, verdrängte sie ihn einfach aus ihrem Kopf
und trat weiter als Sängerin auf.
    Aber so unfähig er einerseits war, auf eine reale Situation
aufrichtig zu reagieren, so unermüdlich war er
andererseits, wenn es darum ging, darüber nachzudenken; er dachte nach und erwog, er mutmaßte und brütete meine Mutter zu Tode. Und als
sie Dan Needham kennenlernte und sich mit ihm verlobte, wie sehr muß [755]  das gedroht haben, all seinen Träumereien ein
Ende zu bereiten; und als sie Dan heiratete, wie sehr muß das gedroht haben,
seinem selbstzugefügten Schmerz, an dem er mittlerweile so hing, ein Ende zu
bereiten. Und daß sie sich trotz all seiner Schwermut ihr sonniges Gemüt
bewahrte – daß sie sogar fröhlich die Holzbänke nach ihm absuchte und ihm einen
Sekundenbruchteil vor ihrem Tod zuwinkte –, wie leichtfertig mußte sie das in
seinen Augen erscheinen lassen! Rev. Lewis Merrill war Gott nie näher gekommen
als in seinen Gewissensbissen wegen der Sünde, die er mit meiner Mutter
begangen hatte.
    Und als ihm das Privileg zuteil wurde, zum
Zeugen von Owen Meanys Wunder zu werden, bestand die ganze Reaktion, die er
zustande brachte, darin, mir etwas von seinem verlorenen Glauben vorzujammern – seinem lächerlich subjektiven und zerbrechlichen Glauben, dessen Zerstörung
durch seine verzagten, selbstauferlegten Zweifel er bereitwillig zugelassen
hatte. Was für ein Schwächling Pastor Merrill doch war; und wie stolz ich
dagegen auf meine Mutter war –, daß sie so vernünftig gewesen war, ihn gehen zu
lassen.
    Kein Wunder, daß es Mr.   Merrill soviel Kummer bereitet hat, etwas
über Owen sagen zu müssen – bei seiner Beerdigung. Wie konnte jemand wie er
wissen, was er über Owen Meany sagen sollte? Er hatte Owens Eltern
»überdimensionalen Aberglaubens« bezichtigt, während er auf empörende Weise
angenommen hatte, Gott habe tatsächlich sein drängendes, mieses Stoßgebet,
meine Mutter möge tot umfallen, erhört; und was besonders arrogant war, er nahm
weiter an, Gott sei nun verstummt und erhöre ihn nicht mehr –, als verfüge er,
Rev. Lewis Merrill, über die Macht, Gott sowohl zu zwingen, ihm seine
Aufmerksamkeit zuzuwenden als auch sein Herz gegen
ihn zu verhärten. Wie scheinheilig er doch war – mir zuzustimmen, daß Mr.   und
Mrs.   Meany einen wahrhaft »überdimensionalen Aberglauben« besaßen!
    Im Pfarrbüro, wo wir uns eingefunden hatten, um uns auf [756]  Owen Meanys Begräbnis vorzubereiten, sagte ich – sehr sarkastisch – zu meinem Vater: »Wie gerne würde ich Ihnen doch helfen,
Ihren Glauben wiederzufinden.« Dann ließ ich ihn stehen – vielleicht mit der
Frage, wie dies jemals geschehen könne. Ich bin niemals wütender gewesen; in
diesem Augenblick fühlte ich mich gedrängt, »Unrecht zu tun«, – und ich
erinnerte mich daran, wie Owen Meany versucht hatte, mich darauf vorzubereiten,
was für eine Enttäuschung mein Vater für mich sein würde.
    Toronto, 27.   September 1987. Es ist bewölkt, wird heute bestimmt
noch regnen. Katherine meint, das am wenigsten Christliche an mir sei meine mangelnde
Bereitschaft zu verzeihen, womit sie, wie ich weiß, recht hat und was zu meinem
immer wieder aufkommenden Bedürfnis, Rache zu nehmen, paßt. Ich saß in der
Grace Church; ich saß alleine da im Dämmerlicht – genauso umdüstert wie

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