Owen Meany
und doch konnte ich den Blick nicht von dem Grabstein lösen. Die
Inschrift war genau so, wie Owen sie am liebsten hatte – in dem von ihm
bevorzugten GRABMALSTIL – und die Seiten- und
Oberkanten waren äußerst sorgfältig abgeschrägt. Nach allem, was Owen mir
erzählt hatte, und nach dem eher grobschlächtigen Eindruck, den ich vom
Ergebnis von Mr. Meanys Arbeit mit der Trennscheibe am Grabstein meiner Mutter
bekommen hatte, hätte ich niemals gedacht, daß er mit derartiger
Kunstfertigkeit zu Werke gehen konnte. Ich hätte auch nie gedacht, daß er
Latein konnte – Owen ja, der war als Schüler recht gut in Latein gewesen. Ich
spürte ein Kribbeln im rechten Zeigefinger, als ich zu Mr. Meany sagte: »Da
haben Sie ja eine hervorragende Arbeit mit der Trennscheibe geleistet.«
Er entgegnete: »Das war nicht meine Arbeit – das war seine !Er hat den
Stein gemacht, als er auf Urlaub zu Hause war. Er hat ihn zugedeckt – hat mir
gesagt, daß ich ihn nicht anschauen soll, nicht solange er lebt, hat er
gesagt.« Ich sah mir den Stein noch einmal an.
»Dann haben Sie also nur noch das Datum eingraviert – das
Todesdatum?« fragte ich ihn; doch es lief mir bereits kalt den Rücken runter – ich wußte bereits, was er antworten würde.
»Ich hab überhaupt nichts mehr daran
gemacht!« erklärte Mr. [746] Meany. »Er hat das
Datum gekannt. Ich hab gemeint, du weißt das.« Natürlich hatte ich es gewußt – und ich hatte mir bereits das Tagebuch angesehen und mich davon überzeugt, daß
er schon immer das genaue Datum gekannt hatte. Doch
dieses Datum so wuchtig in seinen Grabstein eingraviert zu sehen, ließ keinen
Platz für Zweifel – zum letzten Mal war er an Weihnachten 1967 zu Hause gewesen;
er hatte seinen eigenen Grabstein ein halbes Jahr vor seinem Tod
fertiggestellt!
»Nun ja, wenn man Mr. Meany glauben kann«, meinte Rev. Lewis Merrill
zu mir, als ich es ihm erzählte. »Wie du bereits
gesagt hast, ist der Mann geradezu ›überdimensional abergläubisch‹ – und die
Mutter wohl einfach ›geistig zurückgeblieben‹. Daß sie geglaubt haben, Owen sei
eine ›jungfräuliche Geburt‹ gewesen, ist allein schon monströs! Aber daß sie es
ihm auch noch gesagt haben – in einem Alter, als er noch ganz leicht zu beeindrucken
war –, das ist eine viel gewichtigere ›empörende Schande‹, wie Owen es immer
genannt hat, als alles, was den Meanys je von der katholischen Kirche angetan
wurde. Sprechen Sie mit Father Findley darüber!«
»Hat Owen mit Ihnen darüber gesprochen?« fragte ich.
»Immer wieder«, antwortete Pastor Merrill mit einer wegwerfenden
Handbewegung. »Er hat mit mir gesprochen und auch mit Father Findley – was
meinst du, warum der ihm die Schändung seiner geheiligten Statue verziehen hat?
Father Findley wußte, mit wieviel Unsinn Owen von seinen monströsen Eltern vollgestopft worden war – über Jahre hinweg!«
»Aber was haben Sie Owen dazu gesagt?«
fragte ich.
»Sicher nicht, daß auch ich ihn für einen zweiten Christus hielt!«
erwiderte Rev. Mr. Merrill.
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Und was hat er gesagt?«
Rev. Lewis Merrill legte die Stirn in Falten. Er begann zu stottern.
»Owen M-M-Meany hat nicht direkt geglaubt, er sei J-J-Jesus, aber er hat mich
gefragt, warum ich, wenn ich an die eine [747] jungfräuliche
Geburt glaubte, nicht noch an eine zweite glauben könne.«
»Typisch Owen«, bemerkte ich.
»Owen hat g-g-geglaubt, daß hinter allem, was ihm passierte, eine
Absicht stand – daß G-G-Gott seinem Leben eine Bedeutung zugedacht hatte. Gott
hatte O-O-Owen auserwählt «, sagte Pastor Merrill.
»Glauben Sie das auch?« fragte ich ihn.
»Mein Glaube…« begann er; und brach dann ab. »Ich glaube…« setzte er
neu an; und brach wieder ab. »Es steht außer Zweifel, daß Owen Meany über
gewisse hellseherische F-F-Fähigkeiten verfügte – man
hat schon öfter von M-M-Menschen gehört, die in die Zukunft b-b-blicken
können«, meinte er.
Ich war wütend auf Rev. Merrill, daß er Owen Meany genau zu dem
machte, wozu er so oft auch Jesus Christus machte, oder Gott – Mr. Merrill
machte Owen zum Gegenstand »metaphysischer Spekulation«. Er machte aus Owen ein
intellektuelles Problem, und das sagte ich ihm auch.
»Du willst in Owen und in allem, was mit ihm passiert ist, ein
W-W-Wunder sehen – nicht wahr?« fragte mich Mr. Merrill.
»Nun, es ist doch ein ›Wunder‹, oder?«
fragte ich zurück. »Sie müssen zugeben,
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