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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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daß die Geschichte zumindest außergewöhnlich ist!«
    »Du klingst, als wärst du tatsächlich bekehrt «,
meinte Mr.   Merrill herablassend. »Du solltest deine T-T-Trauer nicht mit
echtem, religiösem Glauben verwechseln…«
    »Sie klingen mir überhaupt nicht so, als würden Sie einen besonders
festen Glauben besitzen!« entgegnete ich verärgert.
    »In bezug auf Owen?« fragte er mich.
    »Nicht nur in bezug auf Owen«, erwiderte ich. »Ich habe nicht das
Gefühl, daß Sie besonders fest an Gott glauben – oder an die sogenannten
›Wunder‹. Sie sprechen ständig davon, daß ›Zweifel die Grundlage und nicht das
Gegenteil von Glauben‹ sei – aber mir [748]  scheint,
daß der Zweifel die Oberhand über Sie gewonnen hat.
Und ich glaube, genau das hat Owen auch gedacht.«
    »Ja, das stimmt – genau d-d-das hat er von mir gedacht«, bestätigte
Rev. Lewis Merrill. Wir saßen zusammen im Pfarrbüro, eine Stunde lang,
vielleicht auch zwei, ohne ein Wort zu sagen; es wurde dunkel, während wir so
dasaßen, aber Mr.   Merrill knipste die Schreibtischlampe nicht an.
    »Was werden Sie über ihn sagen – bei der Beerdigung?« fragte ich ihn
schließlich.
    Im Dunkeln blieb mir sein Gesichtsausdruck verborgen; doch Mr.
Merrill saß so unnatürlich steif aufgerichtet an seinem alten Schreibtisch, daß
ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, er glaube selbst nicht so recht,
daß er dieser Aufgabe gewachsen sein würde. » ICH MÖCHTE,
DASS SIE EIN GEBET FÜR MICH SPRECHEN «, hatte Owen Meany zu ihm
gesagt. Warum war dieses Gebet für Rev. Mr.   Merrill so schwierig gewesen? » DAS IST DOCH IHR BERUF, ODER ?« hatte Owen gefragt. Warum wäre Mr.   Merrill da
beinahe in Panik ausgebrochen? Denn es war doch wirklich sein BERUF , nicht nur für Owen zu beten, damals wie jetzt
und allezeit, sondern insbesondere – hier in der
Hurd’s Church, bei Owens Trauergottesdienst – Zeugnis abzulegen darüber, wie
Owen sein Leben gelebt hatte, als sei er ein Stück von Gottes Plan, als erfülle
er Gottes heiligen Auftrag; und ob Rev. Lewis Merrill nun an alles das glaubte,
woran Owen geglaubt hatte, oder nicht, war es nicht auch sein BERUF , Zeugnis darüber abzulegen, was für ein
getreuer Diener Gottes Owen Meany gewesen war?
    Ich saß im Dunkel des Pfarrbüros und dachte, daß Religion für Pastor
Merrill wohl nur ein Job war. Er lehrte die altbekannten Geschichten, mit den
altbekannten Hauptpersonen; er predigte die altbekannten Tugenden und Werte;
und er erging sich in theologischen Betrachtungen über die altbekannten
»Wunder« – und doch schien er an keines von ihnen zu glauben. Er verschloß sich
vor der Möglichkeit, daß es eine andere, neue Geschichte geben [749]  könnte; in seinem Herzen war kein Platz dafür,
daß Gott seine heilige Wahl neu traf, war kein Platz für ein neues »Wunder«.
Owen Meany hatte an die Notwendigkeit seines Todes geglaubt, wenn andere
dadurch vor der Dummheit und dem Haß, die ihn vernichteten, gerettet wurden.
Mit diesem Glauben war er sicher kein völlig neuartiger Held.
    Im Dunkel des Pfarrbüros spürte ich plötzlich, daß Owen Meany ganz
nahe war.
    Rev. Lewis Merrill knipste die Lampe an; er sah aus, als hätte ich
ihn aufgeweckt, als habe er geträumt – er sah aus, als habe er einen Alptraum
gehabt. Als er zu sprechen versuchte, schnürte ihm sein Stottern so sehr die
Kehle zu, daß er beide Hände zum Mund heben mußte – als wolle er gleichsam die
Worte herausziehen. Doch es kamen keine. Er sah aus, als würde er gleich
ersticken. Dann öffnete sich sein Mund – noch immer fand er keine Worte. Seine Hände umklammerten den Rand der Schreibtischplatte;
dann wanderten sie zu den Griffen der Schreibtischschubladen.
    Als Rev. Mr.   Merrill sprach, war es nicht seine Stimme, die ertönte – er sprach mit genau dem Falsetto, dem »permanenten Schrei«, den ich von Owen
Meany kannte. Mr.   Merrills Mund formte die Worte, doch Owen Meanys Stimme
sprach zu mir: »SCHAU IN DIE DRITTE SCHUBLADE RECHTS.« Dann zuckte Rev. Mr.   Merrills rechte Hand hinab zur dritten Schublade auf der
rechten Seite; er zog sie ganz aus dem Schreibtisch heraus – und der Baseball
rollte über den kalten Steinfußboden des Pfarrbüros. Als ich Pastor Merrill ins
Gesicht sah, hatte ich keinen Zweifel mehr daran, welcher Baseball das war.
    »Vater?« stieß ich hervor.
    »Vergib mir, mein S-S- Sohn !« erwiderte
Rev. Lewis Merrill.
    Das war das erste Mal, daß Owen Meany mich seine Stimme

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