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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Tribüne
entdeckt hatte und ihm zuwinkte, den Rücken zum Schlagmal gewandt –, in diesem
Augenblick, so gestand mir mein Vater, habe er zu Gott gebetet, meine Mutter
möge tot umfallen!
    Was mich wütend machte, war seine Versicherung, er habe das
natürlich nicht ernst gemeint – es sei ihm nur »einen Augenblick lang durch den
Kopf geschossen«. Ansonsten habe er sich eigentlich meist gewünscht, daß sie
Freunde sein könnten und daß ihr Anblick ihn nicht immer wieder Ekel vor sich
selbst empfinden ließe wegen seines vor langer Zeit verübten Fehltritts. Als er
bei dem Baseballspiel ihre nackten Schultern sah, haßte er sich selbst er
schämte sich, daß es ihn noch immer zu ihr hinzog. Dann entdeckte sie ihn und
winkte ihm zu – ohne jede Scham, ohne das geringste Schuldgefühl. Sie ließ ihn
sich so schuldig fühlen, daß er ihr den Tod wünschte. Der erste Wurf auf Owen
war weit daneben; er ließ ihn durch. Meine Mutter hatte die Kirche meines
Vaters verlassen, aber das schien ihr keine Probleme zu bereiten, wenn sie ihm
begegnete – sie war immer freundlich, redete mit ihm, winkte ihm zu. Es tat ihm
weh, sich an all die winzigen Details an ihr zu erinnern – an ihre nackte
Achselhöhle zum Beispiel, die er so deutlich zu sehen bekam, als sie ihm
zuwinkte. Der zweite Wurf traf Owen Meany um ein Haar am Kopf; er warf sich zu
Boden, um ihm auszuweichen. Woran auch immer meine Mutter sich erinnerte, mein
Vater hatte den Eindruck, es bereite ihr jedenfalls keinen Schmerz. Sie winkte
ihm weiter zu. Oh, wenn du doch tot umfallen würdest! dachte er.
    Genau in jenem Augenblick schickte er diesen Gedanken als Stoßgebet
gen Himmel. Dann schlug Owen den nächsten Ball. So wirkt sich eine ichbezogene
Religion auf uns aus; sie gestattet uns, sie zur Verfolgung unserer eigenen
Ziele zu benutzen. Wie konnte [753]  Rev. Lewis
Merrill meiner Ansicht zustimmen – daß Mr.   und Mrs.   Meany »überdimensional
abergläubisch« waren –, wenn er selbst glaubte, daß Gott sein Gebet bei diesem
Baseballspiel erhört habe; und daß er ihn seitdem nicht mehr »erhört« habe? Weil er meiner Mutter den Tod gewünscht hatte, meinte mein
Vater, habe Gott ihn gestraft; Gott hatte Pastor Merrill gelehrt, daß man mit
dem Gebet nicht spaßt. Und das war wohl auch der Grund dafür, daß es für Mr.
Merrill so schwierig war, für Owen zu beten – und daß er uns alle aufgefordert
hatte, ihm unsere Gebete still darzubringen, anstatt selbst eines laut zu
sprechen. Und er nannte Mr.   und Mrs.   Meany
»abergläubisch«! Wenn man sich die Welt ansieht, wie viele unserer glorreichen
Staatsmänner meinen, sie wären in der Lage, uns zu sagen, was Gottes Wille ist! Nicht Gott baut Mist, sondern die
Schreihälse, die an ihn zu glauben und ihre Ziele in seinem Namen zu verfolgen
behaupten!
    Was Rev. Lewis Merrill zu seinem wunderlichen Stoßgebet, meine
Mutter möge tot umfallen, veranlaßt hat, ist eine reichlich abgedroschene
Geschichte. Es verstärkte meine Enttäuschung noch zu erfahren, daß die kleine
Liebschaft meiner Mutter eher pathetisch als romantisch verlief; Mutter ist
letztlich nichts anderes als eine sehr junge Frau aus einer sehr provinziellen
Stadt gewesen. Als sie im ›Orange Grove‹ zu singen begann, wollte sie dazu die
aufrichtige Zustimmung des Geistlichen ihrer Heimatgemeinde einholen – sie
brauchte die Bestätigung, daß ihr Unterfangen anständig und ehrenhaft war; und
so hatte sie ihn gebeten, sich einen Auftritt von ihr anzusehen, sie einmal
singen zu hören. Natürlich war es ihr Anblick, der
ihn nachhaltig beeindruckte; in dieser Umgebung – in diesem ungewöhnlichen,
tiefroten Kleid – erinnerte die »Lady in Red« Rev. Mr.   Merrill nicht an das
Mädchen aus dem Kirchenchor, das er durch seine Teenagerjahre geleitet hatte.
Ich denke, es war eine Verführung, die mit nur wenig mehr als der gewohnten
Aufrichtigkeit bewerkstelligt wurde –, denn meine Mutter war aufrichtig
unschuldig, und ich will Rev. [754]  Lewis Merrill
zumindest zugestehen, daß er aufrichtig »verliebt« war; und schließlich hatte
er ja keine große Erfahrung in der Liebe. Später muß ihn dann die realistische
Erkenntnis, daß er keineswegs beabsichtigte, seine Frau und seine Kinder zu
verlassen – die bereits damals (und auch davor schon lange) unglücklich waren! –, beschämt haben.
    Ich weiß, daß meine Mutter es ganz gut verkraftete; soweit ich mich
erinnere, hat sie nie gezögert, mich ihr »kleines

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