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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gesessen und die Tannen beiderseits der Grenze bewundert
hatten –, doch dann fragte ich mich, ob ich nicht vielleicht alles, was ich
zusammen mit Owen Meany gemacht hatte, gar nicht so hundertprozentig richtig in
Erinnerung hatte, wie ich glaubte. Vielleicht hatte Owen ja sogar mein
Erinnerungsvermögen beeinflußt.
    Jedenfalls passierte ich die Grenze reibungslos. Ein kanadischer
Zöllner fragte mich nach dem Zweck des Türanschlags aus Granit – JULI 1952. Er schien verblüfft zu sein, als ich ihm
erklärte, der sei ein Hochzeitsgeschenk. Der Zollbeamte fragte mich auch, ob
ich auf der Flucht vor dem Militärdienst sei; wenn ich auch eigentlich – auf
ihn – den Eindruck gemacht haben müßte, daß ich zu alt war, um noch von der
Einberufung bedroht zu sein, so hatten sie doch, seit über einem Jahr, auch
Männer über sechsundzwanzig eingezogen. Ich
beantwortete die Frage, indem ich dem Beamten den Fingerstumpf zeigte.
    »Ich brauche mir wegen dem Krieg keine Sorgen zu machen«, erklärte
ich ihm, und er ließ mich ohne weitere Fragen nach Kanada einreisen.
    Ich wäre vielleicht in Montreal gelandet; aber da waren zu viele
Leute reichlich unfreundlich zu mir, weil ich kein Französisch spreche. Und in
Ottawa kam ich bei strömendem Regen an; erst in Toronto stieg ich aus dem
Wagen. Ich hatte noch nie einen See gesehen, der so groß ist wie der Lake
Ontario; mir war klar, daß ich den Blick auf den Atlantik vom Wellenbrecher in
Rye Harbor aus vermissen würde, daher war mir die Vorstellung von einem See,
der so groß wirkte wie der Ozean, äußerst angenehm.
    [789]  Weiter ist nicht viel mit mir
passiert. Ich bin passionierter Kirchgänger und passionierter Lehrer. Diese
beiden Passionen müssen nicht notwendigerweise zu einem wenig spannenden Leben
führen, doch mein Leben ist alles andere als spannend gewesen; mein Leben ist
eine Leseliste. Ich will mich nicht beklagen; ich habe Aufregung genug gehabt.
Owen Meany war Aufregung genug für ein ganzes Leben.
    Wie muß es Owen enttäuscht haben… zu entdecken, daß mein Vater so
ein fader Geselle war. Lewis Merrill war eine so unauffällige Erscheinung, wie
hätte ich mich daran erinnern sollen, ihn auf einer
jener Holzbänke gesehen zu haben? Allein Mr.   Merrill konnte meiner
Aufmerksamkeit entgehen. Wie oft ich auch die Zuschauerreihen bei den
Aufführungen der Gravesend Players abgesucht hatte (und Rev. Mr.   Merrill war immer dagewesen), ich kam doch nie auf ihn, ich erinnerte
mich nie an ihn, wie er damals auf einer jener Holzbänke saß, ich übersah ihn
einfach. Bei Versammlungen jeglicher Art stach Mr.   Merrill nicht nur nicht
hervor – er wurde nie auch nur bemerkt!
    Wie hat es mich enttäuscht… zu entdecken, daß mein Vater auch nur
ein Josef ist. Ich wagte nie, es Owen zu erzählen, aber einmal träumte ich,
John F. Kennedy sei mein Vater; schließlich war meine Mutter ebenso schön
gewesen wie Marilyn Monroe! Wie hat es mich enttäuscht… zu entdecken, daß mein
Vater auch nur ein Mensch ist wie ich.
    Was meinen Glauben angeht: Ich bin der Sohn meines Vaters geworden – das heißt, ich bin zu genau solch einem Gläubigen geworden, wie es Pastor
Merrill gewesen ist. Zweifel in einem Augenblick,
Glaube im nächsten – das eine Mal in himmlischen Sphären schwebend, das andere Mal
am Boden zerstört. Canon Campbell hat mir beigebracht, mir eine Frage zu
stellen, wenn die letztgenannte Stimmung von mir Besitz ergreift. Welche
lebenden Menschen habe ich wirklich gern? Gute Frage – eine Frage, die einen
ins Leben zurückführen kann. Gegenwärtig würde ich Dan [790]  Needham
und Katherine Keeling nennen; ich weiß, daß ich sehr viel für sie empfinde,
denn ich sorge mich um sie – Dan sollte ein bißchen Gewicht verlieren,
Katherine ein wenig zulegen! Für Hester empfinde ich nicht ganz so viel; ich
bewundere sie – sie ist sicher eine heroischere Überlebende, als ich es bin,
und die Art, wie sie überlebt hat, ist bewundernswert. Und dann sind da noch
die lockeren, familiären Bindungen, bei denen ebenfalls Zuneigung eine gewisse
Rolle spielt – ich spreche von Noah und Simon, von Tante Martha und Onkel
Alfred. Ich freue mich jedes Jahr vor Weihnachten darauf, sie wiederzusehen.
    Ich hasse meinen Vater nicht; ich denke einfach nicht allzuviel an
ihn – und ich habe ihn nicht mehr gesehen seit dem Tag, an dem er Owen Meanys
Leiche der Erde übergab. Ich höre von Dan, daß er ein toller Prediger ist, und
daß von dem leichten

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