Owen Meany
Gesicht, um von mir, einem Vetter von Hester
the Molester, zu erfahren, ob ich nicht auch der Meinung sei, daß für
Hester alles »begann«, nachdem sie jemanden mit dem Namen »Janet the Planet«
kennengelernt hatte.
»Wie bitte?« entgegnete ich. Rings um mich kicherten Scharen von Mädchen, die alle in meine Richtung starrten.
Der Interviewer wollte von mir vor allem etwas über Hesters
»Vorbilder« wissen; er schrieb gerade etwas über Hesters »frühe [793] Jahre« und hatte gewisse Vorstellungen darüber,
wer sie beeinflußt haben könnte – er meinte, ich sei
der richtige Gesprächspartner für diese Dinge! Ich entgegnete, ich wisse ja
nicht einmal, wer diese »Janet the Planet« überhaupt war, aber wenn er sich für
die Einflüsse auf Hester interessierte, solle er bei Owen Meany anfangen. Der
Name sagte ihm nichts, und er fragte mich, wie man ihn schrieb. Er war
reichlich verdutzt; er hatte gedacht, er hätte die Namen aller Leute, mit denen Hester zu tun hatte, schon einmal gehört!
»Und das ist jemand, der sie in ihren frühen
Jahren beeinflußt hat?« erkundigte er sich. Ich versicherte ihm, daß
Owens Einfluß auf Hester zu den allerfrühesten gezählt werden konnte.
Ja, und sonst? Da war Mrs. Meanys Tod, nicht lange nach dem von
Owen; ich vermerkte ihn in meinem Tagebuch. Und dann das Frühjahr, als ich zur
Gedenkandacht für Großmutter in Gravesend war – es war in der alten Kirche der
Kongregationalisten, in die meine Großmutter ihr Leben lang gegangen war, und nicht Pastor Merrill hielt den Gottesdienst; den hielt
sein Nachfolger als Geistlicher der Kongregationalisten. Es lag noch eine Menge
Schnee in diesem Frühjahr – alter, grauer, toter Schnee –, und ich machte
gerade für Dan und mich in unserem Haus in der Front Street ein Bier auf, als
mein Blick zufällig durchs Küchenfenster hinausfiel auf den kahlen Rosengarten – und auf Mr. Meany traf! Er wirkte noch grauer als der Schnee und tastete sich
langsam Richtung Haus voran, versuchte dabei ein paar geschmolzenen und wieder
gefrorenen Fußstapfen in der Schneekruste zu folgen. Er kam mir unwirklich vor.
Wortlos deutete ich auf ihn, und Dan meinte: »Es ist nur der arme Mr. Meany.«
Mit der Meany Granite Company war es aus und vorbei; der Steinbruch
war seit Jahren stillgelegt, er stand zum Verkauf an. Mr. Meany hatte einen
Teilzeitjob bei den Elektrizitätswerken [794] gefunden,
er las bei den Leuten den Zählerstand ab. Dan erklärte, einmal im Monat tauche
er im Rosengarten auf; unser Stromzähler war auf der Rosengartenseite des
Hauses angebracht.
Ich wollte nicht mit ihm sprechen; aber ich beobachtete ihn vom
Fenster aus. Ich hatte ihm einen Beileidsbrief geschickt, als ich hörte, daß
Mrs. Meany gestorben war – und wie sie gestorben war –, doch er hatte nie
zurückgeschrieben; ich hatte auch nicht erwartet, daß er es tun würde.
Mrs. Meany war in
Brand geraten. Sie hatte zu nahe am offenen Kamin gesessen, und ein
Funke war an die amerikanische Fahne gekommen, in die sie sich – wie Mr. Meany
Dan erzählte – immer einwickelte wie in ein Umhängetuch, und hatte sie in Brand
gesetzt. Obwohl sie keine allzu schweren Verbrennungen davongetragen zu haben
schien, starb sie im Krankenhaus – an unklaren Komplikationen.
Als ich Mr. Meany unseren Stromzähler ablesen sah, stellte ich fest,
daß Owens Medaille nicht zusammen mit der Fahne von den Flammen verzehrt worden
war. Mr. Meany trug die Medaille – Dan meinte, er
trage sie immer. Das Stück Stoff auf der Anstecknadel – rote und weiße Streifen
auf einem blauen Winkel – war stark ausgeblichen, und die goldene Medaille
selbst funkelte nicht mehr so hell wie an jenem Tag in der Hurd’s Church, als
ein Sonnenstrahl durch das Loch im Chorfenster genau auf sie fiel; doch die zum
Flug ausgebreiteten Schwingen des amerikanischen Adlers waren deutlich zu
sehen.
Immer wenn ich an Owen Meanys Tapferkeitsmedaille denke, fällt mir
ein Tagebucheintrag von Thomas Hardy aus dem Jahr 1882 ein – Owen hat ihn mir
gezeigt, diesen Halbsatz darüber, daß wir »in einer Welt leben, wo nichts in
der Praxis dorthin führt, wohin es anfänglich zu führen verspricht«. Das fällt
mir immer ein, wenn ich daran denke, daß Mr. Meany beim Zählerablesen Owens
Medaille trägt.
[795] Ja, und sonst? Sonst war da kaum
noch etwas – es gibt fast nichts mehr anzufügen. Nur eines noch: daß es Jahre
gedauert hat, bis ich mich meiner Erinnerung
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