Owen Meany
nicht in Vietnam?«
fragte er Owen. »Bist du zu klein, oder was?«
[830] Owen versuchte ihn zu
ignorieren, doch Major Rawls beantwortete seine Frage: »Lieutenant Meany hat
seine Versetzung nach Vietnam beantragt – er soll demnächst rüber.«
»Und wieso bist du nicht drüben?« fragte Dick den Major.
»UND WIESO SIND SIE NICHT DRÜBEN, SIR ?« verbesserte ihn
Owen.
Dick schloß lächelnd die Augen; eine oder zwei Sekunden lang döste
er nur, hing irgendwelchen Träumen nach. Dann sagte er zu Major Rawls: »Und
wieso sind Sie nicht drüben, Sir?«
»Ich bin bereits drüben gewesen«, erwiderte Rawls.
»Und wieso sind Sie nicht wieder rübergegangen?« fragte Dick. » Sir …« fügte er gehässig an.
»Ich hab hier einen besseren Job gekriegt«, erklärte Major Rawls dem
Jungen.
»Na ja, irgend jemand muß eben auch die
schmutzigen Jobs machen – ist es nicht so?« entgegnete Dick.
»WENN DU ZUR ARMEE GEHST, WAS MEINST DU, WAS FÜR
EINEN JOB DU DANN BEKOMMST?« fragte Owen den Jungen. »BEI DEINER EINSTELLUNG KOMMST DU NIE NACH VIETNAM – DU WIRST NICHT IN
DEN KRIEG ZIEHEN, DU MARSCHIERST INS GEFÄNGNIS . MAN MUSS NICHT
SONDERLICH CLEVER SEIN, UM NACH VIETNAM ZU KOMMEN, ABER AUF JEDEN FALL ETWAS
CLEVERER ALS DU .«
Der Junge schloß erneut die Augen und lächelte; sein Kopf deutete
ein Nicken an. Major Rawls griff nach einem Bleistift und klopfte damit an den
Lauf des Schnellfeuergewehrs. Das holte Dick augenblicklich in die Realität
zurück.
»Das Ding bringst du besser nicht mit zum Flughafen, mein Junge«,
sagte Major Rawls. »Laß dich da mit dem Gewehr oder den Granaten besser nicht
blicken.« Als der Junge wieder die Augen schloß, klopfte ihm Rawls mit dem
Bleistift an die Stirn. Sofort riß er sie wieder auf; Haß pulsierte in ihnen,
kam und ging – ein vorüberziehender Haß, flüchtig wie Wolken oder Rauch. »Ich
bin nicht mal sicher, ob diese Bajonette und Macheten erlaubt [831] sind – verstehst du?« meinte Major Rawls. »Laß
sie besser in den Scheiden stecken.«
»Die hat mir die Polizei schon öfter weggenommen – manchmal krieg
ich sie noch am gleichen Tag zurück«, sagte Dick. Ich konnte seine Rippen
zählen und seine Bauchmuskeln. Er bemerkte, wie ich ihn anstarrte, und fragte:
»Wer ist der da, der ohne Uniform?«
»ER IST VOM GEHEIMDIENST «, antwortete
Owen. Dick schien beeindruckt, doch dieses Gefühl war flüchtig und verging wie
sein Haß.
»Trägst du ’ne Knarre?« fragte mich Dick.
»ER GEHÖRT NICHT ZU DENEN, DIE STÄNDIG WIE WILD
HERUMBALLERN «, meinte Owen, und Dick schloß wieder die Augen –,
für ihn gab es offensichtlich beim Geheimdienst niemanden, der unbewaffnet
umherlief.
»DIE SACHE MIT DEINEM BRUDER TUT MIR LEID«, meinte
Owen noch, als wir gingen.
»Bis zur Beerdigung dann«, verabschiedete sich Major Rawls von dem
Jungen.
»Scheißbeerdigung, zu Beerdigungen geh ich nicht!« entgegnete er
aufgebracht. »Mach die Tür zu, Geheimdienstpazifist«, sagte er zu mir, und ich
schloß sie hinter mir.
»War nett gemeint, Meany«, meinte Major Rawls und legte Owen seine
Hand auf die Schulter. »Aber diesem Verrückten ist nicht mehr zu helfen.«
Owen erwiderte: »DAS IST NICHT IHRE ODER MEINE
SACHE –, SIE STEHT NICHT UNS ZU: DIE ENTSCHEIDUNG, WEM ›NICHT MEHR ZU HELFEN‹
IST.«
Major Rawls legte eine Hand auf meine Schulter: »Ich sage Ihnen,
Owen ist zu gut für diese Welt.«
Als wir das türkisfarbene Haus verließen, versuchte die schwangere
Tochter eben ihre Mutter, die in der Küche am Boden lag, wiederzubeleben. Major
Rawls sah auf die Uhr. »Das ist ihre Zeit«, meinte er. »Genau wie gestern und
vorgestern. Ich sage [832] euch, Totenwachen sind
auch nicht mehr das, was sie früher mal waren!«
»WAS IST NUR MIT DIESEM LAND LOS?« fragte
Owen Meany. »WIR SOLLTEN ALLE ZU HAUSE SEIN UND UNS UM LEUTE WIE
DIE HIER KÜMMERN. STATT DESSEN SCHICKEN WIR LEUTE WIE DIE NACH VIETNAM!«
Major Rawls fuhr uns zu unserem Motel – einem bescheidenen, hübschen
Gebäude im Haciendastil – in dessen Swimmingpool die Unterwasserbeleuchtung
einen störenden Effekt erzielte, nämlich die Schwimmer beträchtlich vergrößerte
und ihre Körper verzerrte. Doch es gab nicht viele davon, und nachdem Rawls
sich noch zu einem unangenehm späten gemeinsamen Abendessen eingeladen hatte
und schließlich nach Hause gegangen war, waren Owen und ich allein. Wir saßen
im Wasser, am seichten Ende des Swimmingpools, tranken ein Bier nach dem
anderen und
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