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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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es
wirklich versteckt – und dann schickt er sie auf ihr Zimmer und läßt sie
überhaupt nicht mehr ausgehen. Oder vielleicht war es in der Szene, als sie ins
Konzert gehen und er seine Armbanduhr in ihrer Handtasche findet – natürlich
hat er sie dort hineingesteckt, aber er demütigt sie
vor all den hochnäsigen Leuten, und sie muß ihn anflehen, er solle ihr doch
glauben. Na ja, meine Mutter sollte jedenfalls in einer Szene dieses rote Kleid
tragen, und genau in dieser Szene war sie wirklich furchtbar. Sie konnte das
Kleid einfach nicht in Ruhe lassen – dauernd zupfte sie an irgendwelchen
Fusseln herum, starrte ständig an sich hinunter, als sei ihr Ausschnitt, ganz
von alleine, bis zum Bauch gerutscht; sie kratzte in einem fort an sich herum,
als jucke der Stoff auf der Haut.
    Owen und ich sahen alle Aufführungen von diesem Stück; wir sahen
alle Stücke von Dan – sowohl an der Gravesend Academy als auch die der
Laienschauspieler – doch dieses Stück war eines der wenigen, von dem wir jede
Aufführung sahen. Meine Mutter auf der Bühne zu sehen, und zu sehen, wie Dan
häßlich zu ihr war, das war eine so fesselnde Lüge. Das Stück interessierte uns nicht – nur diese Lüge: daß Dan häßlich zu meiner
Mutter war, daß er ihr Böses wollte. Das war faszinierend.
    Owen und ich kannten jeden der Schauspieler in den Aufführungen der
Gravesend Players. Mrs.   Walker, das Monster aus der Sonntagsschule, spielte in
diesem Stück das kokette Hausmädchen – die Rolle, die Angela Lansbury in Gaslicht hatte. Kaum zu glauben. Owen und ich konnten es
jedenfalls kaum glauben. Mrs.   Walker benahm sich wie ein Flittchen! Mrs.   Walker
war ordinär! Wir warteten immer darauf, daß sie rief: »Owen Meany, du kommst
sofort da runter! Du gehst auf der Stelle an deinen Platz!« [146]  U nd
sie war wie ein französisches Hausmädchen angezogen, trug einen ganz engen Rock
und schwarze, gemusterte Seidenstrümpfe, so daß Owen und ich von da an jeden
Sonntag vergeblich nach ihren Beinen Ausschau hielten – es war so erstaunlich,
Mrs.   Walkers Beine zu sehen; und es war noch erstaunlicher zu sehen, daß sie hübsche Beine hatte!
    Die Rolle des guten Kerls – den Joseph-Cotton-Part, wie ich ihn
immer nenne – spielte unser Nachbar, Mr.   Fish. Owen und ich wußten, daß er noch
immer den allzu frühen Verlust von Sagamore betrauerte; der Schrecken der
Katastrophe mit dem Windellaster in der Front Street war noch immer sichtbar in
dem gequälten Gesichtsausdruck, mit dem er jeder Bewegung meiner Mutter auf der
Bühne folgte. Mr.   Fish entsprach nicht ganz unserer Vorstellung von einem
Helden; doch Dan Needham muß es, bei seinem Talent, völlig unerfahrene
Laienschauspieler richtig einzusetzen und anzuleiten, im Falle von Mr.   Fish
gereizt haben, die Trauer und die Wut unseres Nachbarn über Sagamores
Zusammenstoß mit dem Windellaster aus ihm herauszukitzeln.
    Jedenfalls wurde das rote Kleid nach der Generalprobe wieder in den
Schrank gepackt und nicht mehr herausgeholt – abgesehen von den vielen Malen,
wenn Owen es der Schneiderpuppe anzog. Daß meine Mutter dieses Kleid nicht
mochte, muß ihn besonders herausgefordert haben. Der Puppe stand es immer
fabelhaft.
    All das erzähle ich nur, um deutlich zu machen, daß Owen mit dieser
Schneiderpuppe genauso vertraut war wie ich; doch in der Nacht war er nicht
damit vertraut. Er war das Zwielicht im Zimmer meiner Mutter nicht gewöhnt,
wenn sie schlief, wenn die Puppe an ihrer Seite stand – dieser unverwechselbare
Körper, dieses perfekte Profil. Die Puppe stand so still da, als zähle sie die
Atemzüge meiner Mutter.
    Eines Nachts in der Front Street, als Owen in dem anderen Bett
in meinem Zimmer lag, brauchten wir lange, ehe wir einschlafen [147]  konnten, weil Lydia – am anderen Ende des Flures – hustete. Immer, wenn wir dachten, sie habe gerade einen Anfall hinter sich
gebracht oder sei soeben gestorben, fing sie von neuem an. Als Owen mich
aufweckte, hatte ich noch nicht lange geschlafen; er riß mich aus einem so
tiefen und kurzen Schlaf, daß ich mich nicht bewegen konnte – ich kam mir vor,
als läge ich in einem Sarg mit besonders weicher Plüschauskleidung, und die
Sargträger drückten mich nach unten, obwohl ich alles tat, um von den Toten
aufzuerstehen.
    »MIR IST SCHLECHT«, sagte Owen.
    »Mußt du kotzen?« fragte ich ihn, doch ich konnte mich nicht rühren;
ich konnte nicht einmal die Augen öffnen.
    »ICH WEISS NICHT«, meinte er,

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