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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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›reformierter‹ Anglikaner gewesen sein, und er schien die These zu
vertreten, daß alles, was zunächst unterschiedlich erscheint, im Grunde
dasselbe ist. Ich fragte mich unwillkürlich, was Owen Meany wohl dazu sagen
würde.
    Der protestantischen Tradition gemäß wenden wir uns an die Bibel,
die wir immer aufschlagen, wenn wir nach einer Antwort suchen. Aber selbst die
Bibel lenkte mich heute nur ab. Für den Vierten Sonntag nach Epiphanias hatte
Pfarrer Mackie eine Stelle aus dem Matthäusevangelium gewählt – die
beunruhigenden Seligpreisungen; zumindest fanden Owen und ich sie immer
beunruhigend.
    Selig sind, die da geistlich arm sind,
    denn ihrer ist das Himmelreich.
    Es ist nur ziemlich schwierig, sich vorzustellen, daß es die
»geistlichen Armen« sehr weit bringen.
    Selig sind, die da Leid tragen,
    denn sie sollen getröstet werden.
    Ich war elf Jahre alt, als meine Mutter getötet wurde; ich bin
über dieses Leid noch immer nicht hinweg. Und es gibt noch mehr, worunter ich
leide. Ich fühle mich nicht »getröstet«; noch nicht.
    [208]  Selig sind die Sanftmütigen,
    denn sie werden das Erdreich besitzen.
    »ABER BEWEIS GIBT ES DAFÜR KEINEN «,
hatte Owen in der Sonntagsschule zu Mrs.   Walker gesagt.
    Und immer weiter:
    Selig sind, die reinen Herzens sind,
    denn sie werden Gott schauen.
    »ABER WIRD ES IHNEN ETWAS HELFEN, GOTT ZU SCHAUEN?« hatte
Owen Meany Mrs.   Walker gefragt.
    Hat es Owen geholfen, Gott zu schauen?
    »Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und
verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen«, sagt
Jesus. »Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt
werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen
sind.«
    Für Owen und mich war es immer schwer vorstellbar gewesen, wie man im Himmel belohnt werden sollte.
    »HIMMLISCHE BESTECHUNG « nannte Owen das – eine Bemerkung, die Mrs.   Walker nicht verstand.
    Und dann – nach den Seligpreisungen und der Predigt des fremden
Geistlichen – kam mir das Nizänische Glaubensbekenntnis wie etwas
Aufgezwungenes vor. Canon Campbell hatte mir alles erklärt – die Stelle mit dem
Glauben an die »Eine, heilige, katholische und apostolische Kirche« bereitete
mir Schwierigkeiten; Canon Campbell half mir, hinter die Worte zu kommen, er
half mir zu erkennen, was hier mit »katholisch« und »apostolisch« gemeint war.
Canon Mackie meint, das seien ja »nur Worte«, und ich würde mir zuviel Gedanken
darum machen. Nur Worte?
    Und schwierig wurde es für mich auch, wenn von »allen Völkern« und – besonders – von »unserer Königin« die Rede war; ich [209]  bin
zwar nicht mehr Amerikaner, habe aber noch immer Schwierigkeiten mit dem
Passus, in dem um Gottes Segen für »Deine Dienerin, unsere Königin Elizabeth«
gebeten wird; und zu glauben, daß es möglich wäre, »alle Völker auf den Weg der
Rechtschaffenheit« zu führen, ist schlichtweg lächerlich!
    Und ehe ich das heilige Abendmahl entgegennahm, stieß ich mich an der
Gemeinsamen Beichte.
    »Wir bekennen Dir alle unsere Sünde und Missetat.« An manch einem
Sonntag ist es nicht leicht, das zu sagen; Canon Campbell zeigte sich
nachsichtig, als ich ihm gestand, daß ich mit dieser Beichtformel
Schwierigkeiten hatte, Canon Mackie hingegen beharrt so lange auf seiner »Das
sind doch nur Worte«-These, daß ich ihn schließlich in einem höchst
unversöhnlichen Licht sehe. Und als Canon Mackie mit dem heiligen Abendmahl
fortfuhr, zu Dankgebet und Wandlung kam, die er sang, fällte ich sogar ein ziemlich unfaires Urteil über ihn, wegen seiner
Singstimme, die niemals mit der von Canon Campbell – Gott hab ihn selig – wird
konkurrieren können.
    Einzig aus dem Psalm schien mir Wahrheit zu sprechen in diesem
ganzen Gottesdienst, und er beschämte mich geradezu; es war Psalm 37, und der
Chor schien ihn eigens für mich zu singen:
    Steh ab vom Zorn und laß den Grimm;
    erzürne dich nicht, daß du nicht auch Unrecht tust.
    Ja, das ist wahr: Ich sollte »vom Zorn abstehen und den Grimm
lassen«. Wozu ist Zorn gut? Ich habe bereits Zorn empfunden im Leben. Und ich
wurde dadurch auch schon dazu bewegt, »Unrecht zu tun« – wie sich noch zeigen
wird.

[210]  4
    Der kleine Herr Jesus
    Das erste Weihnachtsfest nach dem Tod meiner Mutter war
zugleich das erste Weihnachtsfest, das ich nicht in Sawyer Depot verbrachte.
Meine Großmutter sagte zu Tante Martha und Onkel Alfred, wenn die ganze

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