Owen Meany
– außer bei Großmutter –, aber einige
Leute lasen noch oben im Bett. Wenn es ganz heiß war, schlief Mr. Fish in
seiner Hängematte auf der Veranda, deshalb sagten wir Owen und seinem Vater
ganz leise gute Nacht; Owen sagte seinem Vater, er solle nicht in unserer Auffahrt wenden. Da die Schneiderpuppe nicht in die Fahrerkabine
hineinpaßte – weil sich Arme und Beine nicht beugen ließen – stand Owen, als
der Laster fortfuhr, hinten auf der Ladefläche, den Arm an der Hüfte um das
rote Kleid gelegt. Mit der freien Hand hielt er sich an einer der Ladeketten
fest – mit diesen Ketten wurden die Bordsteine und Grabsteine festgezurrt.
Hätte Mr. Fish in seiner Hängematte gelegen und wäre er
wachgeworden, dann hätte er im Licht der Straßenlaternen etwas Unvergeßliches
die Front Street entlangfahren sehen. Der dunkle, schwere Laster rollte langsam
in die Nacht hinein, und die Frau im roten Kleid – eine kopflose Frau mit einer
bezaubernden Figur, jedoch ohne Arme – wurde von einem Kind oder einem Zwerg
gehalten, der an einer Kette hing.
»Hoffentlich weißt du, daß er verrückt ist«, sagte Hester müde.
Doch ich sah der entschwindenden Gestalt Owens mit Verwunderung
nach: Er hatte es geschafft, diesen traurigen Abend nach dem Begräbnis meiner
Mutter auf eine ganz besondere Weise zu gestalten. Und genau wie die Krallen
meines Gürteltieres, hatte er wieder das an sich genommen, was er gewollt hatte – in diesem Falle das Double meiner Mutter, die scheue Schneiderpuppe in dem
ungeliebten roten Kleid. Später gelangte ich dann zu der Überzeugung, daß Owen
gewußt haben mußte, wie wichtig diese Puppe war; bereits damals muß er erkannt
haben, daß selbst das ungeliebte Kleid einen Zweck haben würde. Doch in jener
Nacht neigte ich dazu, Hester zuzustimmen; ich dachte, das rote Kleid sei nur
Owens Vorstellung von einem Talisman – ein Amulett, mit dem er die finsteren
Kräfte jenes »Engels« abwehren konnte, [206] den
er gesehen zu haben glaubte. Damals glaubte ich nicht an Engel.
Toronto, 1. Februar 1987 – Vierter Sonntag nach Epiphanias.
Heute glaube ich an Engel. Ich behaupte nicht, daß das unbedingt ein Vorteil
ist; so war es, zum Beispiel, bei den Wahlen zum Gemeindevorstand gestern abend
nicht weiter hilfreich – ich wurde nicht einmal zur Wahl aufgestellt. Aber ich
habe ja schon so oft Ämter in unserer Kirchengemeinde innegehabt, so viele
Jahre lang, daß ich mich nicht beklagen sollte; vielleicht wollte mir die ganze
Gemeinde nur einen Gefallen tun – indem sie mir ein Jahr frei gab. Schließlich
hätte ich, wenn man mich zu einem der Gemeindehelfer gewählt hätte, die
Nominierung möglicherweise gar nicht angenommen. Ich gebe zu, daß ich es müde
bin; ich habe mehr als genug für die Grace Church getan. Und dennoch, ich war
überrascht, daß man mich für kein einziges Amt aufstellte; schon aus purer
Höflichkeit – wenn schon nicht aus Anerkennung für meine Frömmigkeit und
Festigkeit im Glauben – hätte man mir eigentlich irgendein Amt anbieten müssen.
Ich hätte mich durch diesen Affront – wenn es überhaupt ein Affront
ist – nicht vom Sonntagsgottesdienst ablenken lassen dürfen; das war nicht gut.
Früher war ich einmal Assistent unseres Rectors – als
noch Canon Campbell dieses Amt innehatte; ich muß zugeben, als er noch lebte,
fühlte ich mich etwas besser behandelt. Doch seit Canon Mackie unser Rector
ist, bin ich einmal stellvertretender Assistent
gewesen, ja, und auch Gemeindevertreter. Und ein Jahr lang war ich im
Gemeindevorstand; auch Leiter der Gemeindeverwaltung bin ich bereits gewesen.
Es liegt nicht an Canon Mackie, daß er nie den Platz von Canon Campbell in
meinem Herzen einnehmen wird; Canon Mackie ist ein warmherziger und gütiger
Mensch –, und ich nehme auch keinen Anstoß an seiner Geschwätzigkeit. Nur eben,
Canon Campbell war etwas Besonderes, und die Zeit damals war eine besondere
Zeit.
[207] Ich sollte nicht über so eine
dumme Sache wie die alljährliche Besetzung der Pfarrgemeindeämter nachgrübeln;
und vor allem sollte ich mich durch solche Gedanken nicht von der heiligen
Eucharistie und der Predigt ablenken lassen. Ich gestehe, daß ich mitunter
etwas kindisch bin.
Der Gastprediger lenkte mich gleichfalls ab. Canon Mackie läßt gerne
Geistliche aus anderen Gemeinden die Predigt halten – wodurch uns seine
Geschwätzigkeit erspart bleibt –, doch wer immer heute die Predigt hielt, er
muß eine Art
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