Owen Meany
Familie
beisammen sei, wäre Mutters Abwesenheit zu offensichtlich. Wenn Dan, Großmutter
und ich allein in Gravesend blieben und die Eastmans allein in Sawyer Depot,
würden wir alle einander vermissen; und dann, so folgerte sie, würde uns meine
Mutter nicht so fehlen. Seit diesem Dezember 1953 spüre ich immer wieder, daß
die Weihnachtszeit für Familien, die einen Verlust zu beklagen haben oder sich
irgendeine Art von Unzulänglichkeit eingestehen müssen, eine ganz besondere
Hölle ist; der sogenannte Geist des Gebens kann genauso besitzergreifend sein
wie der des Nehmens – Weihnachten ist für uns die Zeit, zu der uns bewußt wird,
was uns fehlt, und wer uns fehlt.
Da ich meine Zeit zwischen unserem Haus in der Front Street und dem
verlassenen Internat, in dem Dan seine kleine Wohnung hatte, aufteilte, bekam
ich einen ersten Eindruck davon, wie die Gravesend Academy an Weihnachten war,
wenn alle Schüler nach Hause gefahren waren. Die nackten Ziegelsteine, der mit
einer Schneekruste überzogene Efeu, die Gebäude mit den Schlafsälen und
Klassenzimmern, deren Fenster alle geschlossen waren – wodurch alles
anstaltsartig gleich wirkte – verliehen dem ganzen Schulbereich den Anstrich
eines Gefängnisses, das sich im Hungerstreik befindet; und ohne die Schüler,
die sich auf den Wegen durch die Grünanlagen drängelten, stachen die nackten,
knochenfarbenen Birken in Schwarzweiß gegen den Schnee ab wie ihre eigenen
Kohlezeichnungen, oder wie Skelette der Ehemaligen.
[211] Die Glocke, die zur Schulmesse
läutete, und die Klingel, die Beginn und Ende der Schulstunden anzeigte, waren
abgestellt; und so wurde die Abwesenheit meiner Mutter noch verstärkt durch die
Abwesenheit der typischen Musik in Gravesend, des Läutens der Glocken und
Klingeln der Academy, das ich immer als selbstverständlich hingenommen hatte – bis jetzt, da ich sie nicht mehr zu hören bekam. Nur die feierlichen Schläge
der großen Kirchturmglocke der Hurd’s Church ertönten stündlich; und ganz
besonders an den klirrend kalten Tagen im Dezember, wenn die Kirche eingebettet
war in eine Landschaft aus verharschtem Schnee – aufgetaut und wieder gefroren
zum trüben, silbrig-grauen Glanz von Zinn – läutete die Glocke der Hurd’s
Church die Stunden wie eine Totenglocke.
Es war nicht die Zeit für Fröhlichkeit – obwohl sich der gute Dan Needham redlich bemühte. Dan trank zuviel, und er
erfüllte das leere, hallende Internatsgebäude mit seinem durchdringenden
Gesang; seine Art, die Weihnachtslieder wiederzugeben, war schmerzlich weit von
der meiner Mutter entfernt. Und jedesmal, wenn Owen ein paar Strophen mitsang,
gaben die alten Steintreppen des Internatsgebäudes, in dem Dan seine Wohnung
hatte, ein klagendes Echo wieder, das keineswegs weihnachtlich klang, sondern
nur trauernd: Es waren die Stimmen von den Geistern der Gravesend-Schüler, die
an Weihnachten nicht nach Hause konnten und ihren weit entfernten Familien ein
Lied sangen.
Die Internatsgebäude waren nach ehemaligen, längst verstorbenen
Schulleitern benannt: Abbott, Amen, Bancroft, Dunbar, Gilman, Gorham, Hooper,
Lambert, Perkins, Porter, Quincy, Scott. Dan Needham wohnte in Waterhouse Hall,
benannt nach einem verblichenen Klassizisten, einem griesgrämigen Lateinlehrer
namens Amos Waterhouse, dessen Wiedergabe von Weihnachtsliedern auf Lateinisch ganz bestimmt nicht schlimmer gewesen sein
konnte als der düstere Melodienbrei, den Dan und Owen Meany daraus machten.
[212] Großmutters Reaktion darauf, daß
meine Mutter an Weihnachten tot war, bestand in ihrer Weigerung, sich an den
üblichen Dekorationsarbeiten in ihrem Haus in der Front Street zu beteiligen;
die Kränze an den Türen hingen zu niedrig, und die untere Hälfte des
Tannenbaumes war mit Lametta und Weihnachtsschmuck überladen – das Ergebnis von
Lydias schwerfälligem Werkeln auf Rollstuhlhöhe.
»Wir wären alle besser nach Sawyer Depot gefahren«, verkündete Dan
Needham leicht benebelt.
Owen seufzte. »ICH WERD WOHL NIE NACH SAWYER DEPOT KOMMEN«, meinte
er mißmutig.
Dafür statteten Owen und ich den Schlafsälen der Schüler in
Waterhouse Hall, die über Weihnachten nach Hause gefahren waren, einen Besuch
ab; Dan hatte einen Generalschlüssel. Fast jeden Nachmittag probte er mit den
Gravesend Players die alljährliche Aufführung von Charles Dickens’ Ein Weibnachtslied; für die meisten der Schauspieler war
es mittlerweile schon ein alter Hut, doch Dan ließ sie – um etwas
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