Paarungszeit: Roman (German Edition)
stoisch allen Aufforderungen, sich zu schleichen. Hinter mir hörte ich Onkel Hartl fluchen, auf Stahltüren mit Sicherheitsschlössern. Es sei unmöglich, sie aufzubrechen, sagte er zu Therese, und ich solle durchhalten, er käme gleich zurück, mit dem Schweißgerät. Danach Gepolter, sie stürmten die Treppe wieder hinunter. Und Cedi setzte die Brille auf, ohne seinen Blick von mir zu lösen.
»Ich komm jetzt mal rauf«, sagte er.
»Chiüüü! Chräccch!« Eine äußerst angepisste Waldohreule rauschte aus der Tanne, ließ sich im Baum nebenan nieder. In ihrer Empörung klang sie noch schweizerischer als zuvor, was vielleicht auch daran lag, dass ein Schweizer ihre Tanne erklomm. Was hatte Cedi vor? Er hatte eine Weile auf der Baustelle herumgesucht und ein Drahtseil von einer Rolle gewickelt, während Fredl, die Kuh, Lucien und Therese in Verhaftungsdiskussionen verstrickt waren und Onkel Hartl das Rennrad bestieg. Jetzt, vom beängstigend wackelnden Baumwipfel aus, schwang Cedi das Seil wie ein Lasso.
»Fang, Susn!«
»Chräwrrrz!«
Dann ging alles schnell: Ich wich vor dem auf mich zufliegenden Seil zurück, das trotzdem in der Fensteröffnung hängen blieb, erwischte es im letzten Moment, folgte mit zitternden Fingern Cedis Anweisungen, wie ich es an der Eisenschlinge verknoten sollte, die in die Wand eingelassen war. Einen schwindligen Moment lang erwartete ich, er würde es spannen und darauf zu mir herüberbalancieren. Aber er kletterte schon hinunter, hatte anscheinend nur in die Höhe meines Fensters gelangen wollen, um mir das Seil zuzuwerfen. Nun hing es schlaff wie ein Tau in der Schulturnhalle von der Eisenschlinge bis zum Boden. Und spannte sich, als Cedi – oh mein Gott! – die senkrechte Wand hochkletterte, sich mal an Vorsprüngen festhaltend, mal am Seil. Immer wieder überprüfte ich den Knoten, schlang das Seil sicherheitshalber auch noch um mein Handgelenk, danach blieb mir nichts mehr als zu beten, zu sämtlichen Schutzpatronen aller Kletterer, Bergsteiger, Burgfräulein, Dornröschen, Schweizer und Liebenden dieser Welt. Endlich sah ich verschrammte Finger am Sims, ein anstrengungsverzerrtes Gesicht, Schultern, unter die ich, mich weit aus dem Fenster lehnend, griff, Arme, auf die er sich stemmte. Oberkörper voraus schob er sich zum Fenster herein, und wir beide fielen auf den Steinboden. Mein Schmerzensschrei, als das Seil in die Haut meines Handgelenks schnitt, Cedrics Fluch: »Putain de merde! Bist du wahnsinnig?«
Ich? Wahnsinnig? Wer war denn gerade die Fassade hochgeklettert wie der Prinz bei Dornröschen?
»Ich hätte dich mitgezogen, wenn ich gestürzt wäre. Das ist das Dümmste, was du tun kannst beim Klettern.«
Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war ein Vortrag über das Klettern. Wie eine von Delphine de Brulées Wogen überrollte es mich, das ganze Ausmaß der ausgestandenen Angst, Zittern, aufsteigende Schluchzer, Schmerz, aufbrandende Wut. Und bevor ich nachdenken konnte, warf ich ihm schon alles vor, die Nacht, mein Warten, die Gedanken an Strobls möglichen Besuch, die ich verdrängt hatte, dass er mir dauernd aus dem Weg ging, und wo er die ganze Nacht geblieben war, in der ich …
»Aber ich war doch bei dir! Bei dir zu Hause! Du hast mir doch diese SMS geschickt! Dass ich kommen soll, dass du mich sprechen willst, nachts um halb elf. Und dann warst du nicht da. Ich bin fast verrückt geworden und habe die ganze Nacht nach dir gesucht!« Er setzte sich auf, fuhr sich durchs Haar.
»Ich? Dir? Eine SMS? Quatsch!« Ich brach ab, verstand erst jetzt, was er gesagt hatte. »Du … du hast mich gesucht …? Warum?«
»Weil ich … ach, merde alors! Weil ich dich liebe!«
»Du … äh … mich? Aber … du hast dich doch dauernd entschuldigt für diesen verdammten Kuss!«
»Susn! Verflucht! Ich hab dir nicht im Weg stehen wollen! Du bist eine Braut!«
»Bin ich nicht, Kruzinesen!«
»Aber du trägst ein Hochzeitskleid!«
»Warum schreien wir uns eigentlich so an?«
Blass war er, verschrammt und verschmutzt, er kniete auf den Rüschen des Meerjungfraukleids und beugte sich vor, befreite vorsichtig mein Handgelenk.
»Du siehst wunderschön aus, Susn …«
»Cedi, ich … ich … heirate nicht.«
»Du …? Was?« Er verharrte, über mein Handgelenk gebeugt, ich sah nur den Wirbel seiner Haare, der anscheinend für alle Zerrauftheiten zuständig war, dann hob er den Kopf, schaute mich an, schien die Luft zu trinken, wie eben auf dem Fahrrad. »Sag das noch
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