Paarungszeit: Roman (German Edition)
sie Susns Geheimniskrämerei aus der Bahn! Therese sammelte sich, setzte wieder an: »Diese Fliegen an der Schaufensterscheibe sind ärgerlich, aber harmlos, ebenso wie die Försterliesel-Tännchen auf dem Uferweg. Und der stramme Max in der Feuerwehrkneipe. Sogar die willkürlichen Razzien in der Tauchschule sind harmlos im Vergleich zu dem, was in Neuenthals Untergrund brodelt und vor dem wir nicht länger die Augen verschließen können: Korruption! Schwarze Kassen! Wucher! Geldeintreiberei an einer völlig unnötigen Ampel! Ich sage dies nicht, weil ich mich als friedliche Fußgängerin von der Existenz dieser Ampel in meiner Freiheit beeinträchtigt fühle. Nein, es geht nicht um mich, es geht um euch. Wie wollt ihr leben? Frei und selbstbestimmt? Oder ausgebeutet und ferngesteuert? Hier in Neuenthal, meine Freundinnen und Freunde, erlauben Sie mir, dies so deutlich auszusprechen, hier in diesem friedlichen Fleckchen herrschen mafiöse Zustände! Aber wenn ich erst regiere …« Das Wort warf sie einen Moment aus der Bahn, sie bremste ihren Schritt, mit dem sie im Zimmer auf und ab gegangen war, und Lucien sah sie fragend an. Er trug wieder kurze Hosen und ein Hemd, das züchtig zugeknöpft war. Keine Nylonstrümpfe. Was er von ihr aus gern hätte tun können, wenn er sich darin so wohl fühlte wie der Transvestit aus dem Internet in seinem Sessel. Sie war tolerant. Ha! Ein neues Stichwort! Sie kam wieder in Fahrt, und Lucien lächelte.
»Toleranz ist ja einerseits eine gute Sache, andererseits sollte man mit der Intoleranz auch nicht zu tolerant sein. Seid nicht tolerant, wenn man euch das Recht absprechen will, Romane zu lesen, die euch gefallen, hart erarbeitet von einer Frau, die Tag und Nacht bei Kamillentee an den Sätzen feilt, die euch beglücken! Bürgerinnen und Bürger!« Sie breitete die Arme aus, und Lucien legte den Kopf schief, lauschend, als wolle er jedes einzelne Wort auskosten. »Von ganzem Herzen, mit Leib und Seele, den Verstand nicht zu vergessen, bin ich Neuenthalerin! Bin es immer gewesen, ihr wisst das. Mehr als Fredl Weidinger es jemals sein könnte. Fredl Weidinger ist ja nach der Schule weggegangen, zur Ausbildung, war danach ein paar Jahre in Niederbayern und wurde dann – böse Zungen könnten fragen, warum! – nach Mohnau versetzt. Uns Neuenthaler beehrte er – böse Zungen könnten jetzt sagen: glücklicherweise – nicht allzu oft mit seiner Anwesenheit. Bis die Mohnauer seine Versetzung mit viel Engagement an höchster Stelle durchpeitschten. Böse Zungen würden jetzt etwas nachhaltiger fragen, warum.«
Gut. Sehr gut. Lucien sah sie ernst und aufmerksam an. Was für einen schönen Mund er hatte. Diese Grübchen, eins am Kinn und zwei männliche Kerben in den Wangen. Direkt eine Verschwendung der Natur, dass so ein Mannsbild für Frauen nicht verfügbar war.
»Und betrachten wir einmal die Vergangenheit! An der Realschule Mohnau. Unter uns gesagt, an der Schule war Fredl Weidinger auch nicht immer eine Zierde der Gemeinschaft. Die Uhrzeit, nun gut, die hat er uns gesagt. Aber hat er uns darüber hinaus etwas gesagt? Hat er uns stattdessen nicht eher belästigt mit seinen Annäherungsversuchen, hat er ned das ein oder andere anständige Madl arg bedrängt? Gut, das Madl hätte sich wehren können, sicher, aber unter uns: Wenn das Licht aus ist, mei …« Sie stockte, und Lucien beugte sich taktvoll wieder über sein Instrument. »Und des könnts mir scho glauben, ned alle waren wie die Toni mit ihrem Top und der Jeans, die sie sich in der Badewanne hat anziehen müssen. Fünf Madln ham ja helfen müssen, bis sie den Reißverschluss zukriagt hat, das Aufmachen fiel ihr scho leichter … Ja, Freundinnen warn ma scho, bis der Veit Strobl auf mich scharf war wie a Bock auf die Geiß und sie ihn mir hat ausspannen wollen, aber der Veit is eben ned auf diese Flitscherljeans abgefahren, der Veit Strobl, der war scho geschieden und stand auf ein gutes Herz. Auf meins. Na ja, a bisserl drumherum hab ich ja auch gehabt. Und die Toni, meine Freundin? Eingeschnappt is’ gewesen, hat überall verbreitet, i hätt ihr den Mann ausgespannt! Dabei wars umgekehrt. Mei, und auf einmal warn wir verlobt, der Veit und ich. So schnell! Alle ham mir zugeredt, weißt. Was hab ich denn auch für a Wahl gehabt? Verlobung oder Lehre beim Kaufhaus in der Kreisstadt. Verkäuferin in der Damenabteilung!« Im Eifer ihrer immer bayerischer werdenden Rede war sie im Zimmer hin und her gelaufen, an der Tür
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