Pain - Bitter sollst du buessen
du da? Hier ist Sam. Komm schon, melde dich, ja? Wir könnten hier im Studio ein bisschen Hilfe gebrauchen. Bitte. Melanie? Melanie …«
Der Hörer wurde abgehoben.
»Mel–«
Und wieder auf die Gabel geknallt.
Samantha schrak zusammen und kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hatte, mit Melanie zu sprechen. Sie war sauer, sie würde es sich nicht anders überlegen. Nicht in dieser Nacht. Anscheinend wollte sie ihren Kollegen etwas beweisen. Sam eilte zurück in ihre Kabine und stieß beinahe mit Dorothy, der Polizistin, zusammen, die, einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand, gerade um die Ecke kam.
»Uuups …« Es gelang Dorothy zu verhindern, dass der Kaffee überschwappte. »Jahrelanges Training«, erklärte sie und fügte hinzu: »Wie ich höre, sind Sie heute Nacht allein.«
»Das habe ich eben erst erfahren.« Sam war vor ihrer Kabine angelangt und warf einen Blick ins benachbarte Studio. Tiny saß an seinem Pult, den Kopfhörer über den Ohren.
»Keine Sorge«, bemerkte Dorothy, die mit der freien Hand die Tür öffnete. »Ich kenne die Abläufe. Sie, Tiny und ich, wir schaffen das schon.«
»Das hoffe ich«, sagte Sam und wünschte, Melanie wäre nicht so unbeständig und starrsinnig. Trotz ihrer Fehler war Melanie eine bewährte Kollegin, anregend, immer auf dem neuesten Stand, unzählige überspannte Vorhaben im Kopf. Genau das ist ihr Problem, dachte Sam, die Kleine ist ehrgeiziger, als gut für sie ist.
Kaum hatte sie die Kabinentür hinter sich geschlossen, schob Sam alle Gedanken an Melanie zur Seite. Sie hatte zu arbeiten. Und sie hatte einen Plan. Einen Plan, den sie weder Ty noch Eleanor noch der Polizei anvertraut hatte, einen Plan, den sie nur ausführen würde, wenn sie sich ganz sicher fühlte. Doch sie war überzeugt, dass ihr nichts geschehen konnte. Sie wurde zum Sender und zurück nach Cambrai gefahren, das Haus war abgeschlossen, die Alarmanlage eingeschaltet, und hier an ihrem Arbeitsplatz wimmelte es von Sicherheitsdienstleuten und Polizisten.
Sie musste John erreichen, musste der Polizei helfen, ihn zu schnappen, bevor er sich sein nächstes Opfer suchte.
Sie stellte Mikrofon und Headset ein, überprüfte die Lautstärke und vergewisserte sich, dass das Computerdisplay richtig funktionierte. Auf ein Zeichen von Tiny in der Nebenkabine hin hörte sie die Eingangsmusik und wartete, bis die letzten Takte verklungen waren. Dann beugte sie sich übers Mikrofon. »Guten Abend, New Orleans, hier ist Dr. Sam mit ›Mitternachtsbeichte‹, einer Talkshow, die Herz und Seele gut tut. Heute Nacht wollen wir über Opfer sprechen«, sagte sie, überzeugt, dass dieses Thema John am ehesten dazu bewegen würde, sie anzurufen. »Wir alle bringen Opfer. Jeden Tag. Normalerweise für einen Menschen, den wir lieben, für den Chef oder für etwas, das wir uns wünschen. Es ist ein Teil unseres Lebens. Aber manchmal haben wir das Gefühl, dass ein Opfer zu groß ist, dass wir immer nur geben und dass es nicht anerkannt wird.« Schon blinkten die Kontrolllämpchen der Leitungen eins, zwei, drei und vier. Aus den Augenwinkeln sah sie Tiny und die Polizistin, die redeten, nickten, die Anrufe siebten. Der erste Name erschien auf dem Display. Arlene.
Sam drückte die entsprechende Taste. »Hier ist Dr. Sam«, sagte sie. »Mit wem spreche ich?«
»Hi. Hier ist Arlene.«
»Willkommen in unserer Sendung, Arlene. Ich schätze, du rufst an, weil du persönliche Erfahrungen oder Beobachtungen zum Thema Opfer beisteuern willst?«
»Ja, ja. Genau. Ich bin Mutter von drei Kindern …« Arlene ließ sich darüber aus, dass sie alles für ihre Kinder tat und sie bedingungslos liebte. Währenddessen las Sam die übrigen Namen auf dem Display. Mandy war auf Leitung zwei, Alan auf der drei, Jennifer auf der vier.
Nachdem Sam mit den vier Anrufern gesprochen hatte, war die Sendung schon zur Hälfte vorüber. Bis jetzt hatte John den Köder noch nicht genommen.
Sam hoffte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er anbiss.
»Ich soll so tun, als wäre ich Dr. Sam?«, fragte Melanie ihren Freund und verdrehte die Augen. Sie war noch immer wütend wegen der Vorfälle im Sender und hatte bereits rasch hintereinander zwei Gläser Wein getrunken. Jetzt stand sie in der Kochnische ihrer Studiowohnung, schnitt Limonen in Scheiben und mixte Drinks. Ihr Freund, in schwarzer Jeans, schwarzem T-Shirt und Lederjacke, durchmaß den Raum von einem Ende bis zum anderen. Er wirkte nervös, und die prickelnde Erregung,
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