Pakt der Könige
einer der Männer schlug ihm sofort vor, sie ihm gegen ein Trinkgeld von einem halben Res zurückzugeben. Das war der gängige Preis, und man bekam sogar Rabatt, wenn man eine ganze Familie auslöste.
Arekh war nicht der einzige Interessent, wie ihm aufging, als Non’iama die Höhle verließ und auf ihn zurannte. Die Welt wäre einfacher gewesen, wenn alle Sklavenhalter nur Monster gewesen wären, aber das war natürlich nicht der Fall. Freie Männer versuchten, die Wachen zu bestechen, um ihre Geliebten oder illegitimen Kinder auszulösen, ganze Familien zahlten, um den alten Diener, der ihnen seit so vielen Jahren treu ergeben war, die Kinder, mit denen ihre aufgewachsen waren, oder die blonde Amme, die ihrem Erstgeborenen die Brust gegeben hatte, zurückzuholen. Und da die »Wachen« nichts weiter dagegen hatten und der Preis, den sie verlangten, vernünftig war, kamen alle auf ihre Kosten - natürlich nur, weil sie
sich in einem entlegenen Gebiet befanden, in dem die Geistlichkeit nicht viel Einfluss hatte. Die Herren würden ihre Sklaven nur dann verstecken müssen, wenn irgendwann einmal ein Abgesandter des Tempels zu Besuch kam. Bis auf die Priester würde sich niemand in den Lehmhütten von Nôm an ihrer Gegenwart stören.
Aber im Emirat? In Reynes? In Harabec? Wer würde es dort, wo die Tempel zum Stadtbild gehörten und die Götter bei jedem Schritt dabei waren, wagen, sich dem Befehl zu widersetzen? Und vor allem: Wer würde das Risiko eingehen, denunziert zu werden?
Arekh nahm Non’iama an die Hand und beobachtete, wie Marikani auf und ab lief und nach einer Lösung suchte. Währenddessen brachte die Miliz jede Stunde weitere Sklaven, so dass die Höhle bald zu klein war und die Neuankömmlinge in einem Pferch zusammengetrieben werden mussten. In der Höhle befanden sich mittlerweile zwei- oder dreihundert Sklaven, im Pferch schon etwa hundert. Das Ritual, das in vier Tagen stattfinden sollte, würde überall in den Königreichen im selben Augenblick beginnen: Jede Stadt und jedes Landgebiet hatte bereits einen Opferplatz ausgewählt. Hier würde es ein Tempel des Alten Kaiserreichs sein; die weißen, schimmernden Ruinen erhoben sich auf einem nahen Berg. Man errichtete dort einen gewaltigen Altar, und »Freiwillige«, die der Häuptling ausgewählt hatte, schleppten murrend schwere Holzbalken hinauf.
Natürlich waren hier nur die Sklaven aus Nôm und der Umgebung. Worauf hatte Marikani gehofft, als sie davon gesprochen hatte, das Ganze zu verhindern? Hier würden nur fünf- oder sechshundert Sklaven geopfert werden. Wie sollte sie die monströsen Opfer verhindern oder auch nur
beeinflussen, die sich in Reynes und allen großen Städten der Königreiche ankündigten?
Aber sie hatte sicher auf gar nichts gehofft, sie musste sich ohnmächtig und verloren fühlen, dachte Arekh, als er sah, wie sie den Wagen nachblickte, die ganze Sklavenfamilien herankarrten, die schrien und weinten, bevor sie in den Pferch gestoßen wurden.
»Wenigstens diese hier«, flüsterte sie, als Arekh an sie herantrat. »Lasst uns wenigstens diese hier retten.«
Warum? , hätte Arekh gern gefragt. Warum sollten sie versuchen, ein paar hundert zu retten, wenn Hunderte, ja, Tausende sterben würden?
Andererseits … Warum nicht?
Sie waren hier weit von allem entfernt. In einer abgelegenen Stadt in einem wilden Berggebiet, an einem Ort, der weit von allen Machtzentren und jeglicher Beeinflussung entfernt war. Was taten sie hier? Was tat Marikani, die sich so verbissen gegen das Verhängnis wehrte?
Arekh versetzte einem Stein einen Tritt und sah zu, wie er davonrollte.
Was tat er hier?
Die Antwort wurde ihm plötzlich offenbar und brachte ein seltsames Gefühl mit sich. Der »Weg der Steine«. Er hatte ihn hierhergeführt. Vor einigen Monaten hatte er sich dem Schicksal anvertraut, hatte auf einer verlassenen Landstraße Kiesel geworfen. Und nun war er hier.
Nicht in Salmyra. Hier , auf diesen roten Felsen an einem vergessenen Ort.
Hier.
Er hob die Augen zum Tempel auf dem Berggipfel, der von schrägen Lichtstrahlen erhellt wurde, die durch die Gewitterwolken drangen. Das Gefühl gespannter Erwartung
wurde stärker, während er die Wachen, die Sklaven, die Schaulustigen, die Familien und Marikani betrachtete, die sich über die rote Erde bewegten wie Tänzer, die dem Höhepunkt einer Aufführung zustrebten. Alles ist mit allem verbunden. Das war einer der Sätze aus dem Buch der Weisen, einem der zahllosen
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