Pakt der Könige
einbrachte. Aber Marikani kannte den Hohepriester seit Jahren und hatte den Eindruck, dass sie einander manchmal verstanden.
Hatte sie ihn diesmal verstanden?
Der Hohepriester öffnete den Mund, zögerte dann, und Marikani wusste, dass sie richtig vermutet hatte. Aber es war nicht genug, dass er Mitleid empfand. Er musste sich vor seinen Vorgesetzten, seinem Gewissen und vor den vor Jahrhunderten in mittlerweile staubigen Manuskripten niedergeschriebenen Gesetzen rechtfertigen. Vor seinen Göttern , dachte Marikani, in der erneut Übelkeit aufstieg.
»Ayashinata«, hauchte er, »ich …«
Marikani erfuhr nie, wie seine Entscheidung gelautet hätte. Ein Geräusch ertönte auf einer der Brücken über ihnen, und die Soldaten wichen beiseite, um eine Gruppe
von Männern in langen, silbergrauen Gewändern durchzulassen.
Totenstille senkte sich über den Graben.
Der Hohepriester erstarrte.
»Es tut mir sehr leid«, flüsterte er Marikani zu, und indem er sich zu den Neuankömmlingen umdrehte, verneigte er sich bis zum Boden.
»Ayashi«, flüsterte Feris und warf sich nieder; aber er täuschte sich.
Der Pomp und die Achtung, die den Seelenleser umgaben, hatten ihn die falschen Schlüsse ziehen lassen. Dies war nicht Harrakin …
Marikani erschauerte. Der hochgewachsene Mann, der die Gruppe dominierte, hieß Laosimba es Verityu von Meslore, Gesegneter des Fîr. In seinen Adern floss das Blut von tausend Helden, er stammte vom größten der Götter ab und gehörte zum Machtgefüge des Hohen Tempels von Reynes. Er war der Seelenleser, dessen Urteil in Fällen von Blasphemie und Häresie in den Königreichen angerufen wurde, vom Norden bis in den Süden.
Marikani trat einen Schritt vor und reckte dann den Kopf, um ihn besser sehen zu können. Er stand auf einer Brücke in der Nähe, umgeben von seinen Mitpriestern, und trug eine graue Robe; nur eine schwere Silberkette hob ihn von den anderen ab. Er wirkte jung, sogar sehr jung, und von dort, wo sie stand, konnte Marikani nur den eisigen Blick seiner goldenen Augen erkennen, die ein Zeichen des höchsten Adels und der Reinheit seines Blutes waren.
Der Blick des Seelenlesers schweifte über Marikanis zerrissene, beschmutzte Gewänder, Vashnis mit Erde beflecktes Gesicht, die Soldaten und ihre erhobenen Armbrüste,
die Leichen und das Blut, das sich im Graben mit dem Schlamm vermengte.
»Ich sehe, dass ich zur rechten Zeit eingetroffen bin, um mein Urteil zu sprechen«, sagte er mit einer Stimme, die in der gesamten Höhle widerhallte und von den grauen Wänden zurückgeworfen wurde. »Die Klinge Fîrs fährt heute auf die Aufständischen nieder, die es gewagt haben, dem Blick der Götter zu trotzen! Möge jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in diesem Bergwerk Angst, Leid und Tod erfahren. Die Dezimierung wird zweimal durchgeführt werden, denn die Übertretung war doppelt … Und die Folterungen werden verdreifacht werden!«
»Nein!«, rief Marikani mit heiserer Stimme und wollte auf die Brücke zueilen, als sie sich vom eisenharten Griff zweier Hände gepackt fühlte.
Der Hohepriester hatte sie an den Schultern gefasst und hielt sie an sich gedrückt - das war eine solch unglaubliche Respektlosigkeit gegenüber der Person der Königin, dass Marikani ihn für eine solche Handlung hätte hinrichten lassen können, wenn sein Rang nicht gewesen wäre.
»Seid still«, raunte ihr die ernste Stimme des Priesters ins Ohr, und Marikani sah, wie Laosimbas Geierblick sich von der Brücke aus auf sie beide richtete. »Wenn Ihr auch nur einen Schritt auf ihn zumacht«, flüsterte der Hohepriester weiter, »wenn Ihr protestiert, dann ist es mit Eurer Herrschaft vorbei. Man verteidigt keine Sklaven, die der Blasphemie überführt sind. Er wird Euch als Ketzerin absetzen lassen, Marikani, versteht Ihr?« Er holte tief Luft. »Ihr würdet gestürzt werden und nichts erreichen. Nichts kann Fîrs Urteil aufheben. Dreht Euch nicht um, seht nicht nach unten. Diese Menschen sind bereits tot.«
Er ließ sie los, und Marikani blieb erstarrt stehen; sie
folgte mit Blicken dem Seelenleser, der die Brücke langsam überschritt, die Rampe erreichte und zu ihnen hinunterzusteigen begann. Die anderen Priester folgten ihm, und Marikani erkannte neben ihnen einen Mann in Palastlivree - einen Mann, den sie gut kannte, Peron, einen Vertrauten Banhs, den dieser einsetzte, um wichtige Botschaften zu überbringen.
Peron beeilte sich und hastete die Rampe herunter, um einige Augenblicke vor der
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