Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Leihen.«
»Was Ihr nicht sagt!«
»Doch. Jede Generation, heißt es in der Marginalie…«
»Der was?«
»Der Randbemerkung zur Formel. Sie besagt, jede Generation müsse einen Teil des Wortgespinsts – also des Sonettenkranzes – erhalten, aber erst wenn das gesamte Meister-Sonett in den Händen der Menschen liegt, sie es aber nicht einmal bemerken, kann es der Anwärter auf die unumschränkte Macht der Worte wieder zurückrufen.«
»Und dann werden dem Meister-Sonett auch alle anderen Worte folgen.« Nachdem sie sich erst der Sage vom Unaussprechlichen entsonnen hatte, stand ihr die Katastrophe glasklar vor Augen. In Giuseppes Erzählung war nämlich auch von einem Gedicht oder Lied die Rede gewesen. Der Überlieferung nach könne sein Besitzer die Worte lenken. Alles fügte sich.
Zitto grinste diebisch. »Sie ist ein kluges kleines Mädchen!«
»Und Ihr seid ein Scheusal. Das dürft Ihr nicht tun!«
»O Kind, will Sie schon wieder mit diesem unsäglichen Streit anfangen?«
»Aber die Menschen haben Euren Sonettenkranz doch geschätzt, wenn er sogar Häuserwände, Brücken und andere Bauwerke zierte.«
»Auf jedes einzelne der Sonette mag dies zutreffen, aber nicht auf den ganzen Reigen. Wir haben sie an Unsere Nachkommen vererbt. Der Erstgeborene jeder Generation bekam eines: Es begann mit dem vierzehnten, dem letzten Gedicht, dann folgten alle vorhergehenden, bis zu dem Auftakt der Gewogenen Worte ganz am Schluss…«
»Genau umgedreht – wie bei der Käferspinne«, murmelte Pala.
»Jeder Erbe«, fuhr Zitto unbeirrt fort, »durfte frei über sein Sonett verfügen. Wie es Die Macht der Worte verlangt, wurde nach und nach der ganze Reigen kundgemacht. Dennoch hat keine Generation die Summe Unseres prächtigen Werkes erkannt.«
»Kein Wunder, wenn Ihr sie auf die Böden von Euren Silbertabletts schreibt oder auf Brücken, die nur in Eurem Garten stehen.«
»Das sind nur Kopien Unserer auserlesenen Verse, wie es derer viele in Zittonien gibt. Selbstverständlich haben Wir das Regelwerk des Geheimbuches strengstens befolgt. Manche Gedichte waren häufiger und andere weniger oft zu sehen, aber keines blieb gänzlich verborgen.«
Palas Blick verirrte sich für einen Moment zu dem hohen runden Käfig, der unter der Decke hing. Ein ausgewachsener Mann hätte bequem darin Platz gefunden – zu welchem Zweck auch immer. Beklommen wandte sie sich wieder der selbstgefälligen Miene des Alten zu. Bis jetzt hatte er den Preis für seine Niederlage in kleinen Münzen ausgezahlt und trotzdem geschickt die entscheidenden Wahrheiten zurückgehalten. Fast kamen ihr seine Äußerungen wie ein neues Rätsel vor, womöglich das schwerste von allen, mit dem er ihre Fähigkeiten auf die Probe stellen wollte? Sie fühlte sich der Lösung so nah! In Gedanken wiederholte sie immer wieder den alten Sinnspruch, der, wie sie jetzt wusste, der Anfang von Zittos Sonettenkranz war. Irgendwann, ohne es zu merken, murmelte sie ihn sogar laut. »Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer.«
»Wem sagt Sie das!«, seufzte Zitto und sah mit einem Mal wieder müde und verhärmt aus.
Anstatt den Graukopf zu hassen, empfand Pala Mitleid für ihn. Sein Diebesgut – das war ihm anzusehen – hatte ihn nicht glücklich gemacht, sondern ihn in jenes Zerrbild eines Dichterfürsten verwandelt, das er nun geworden war: boshaft, einsam, ruhelos.
»Warum?«, fragte sie unvermittelt, kein Vorwurf lag in ihrer Stimme, sondern nur ein unbändiges Verlangen nach der Wahrheit.
Zittos Augen begannen im Kerzenlicht auffällig zu glänzen. »Wir sehnen uns nach Stille«, sagte er leise und es klang unendlich müde.
»Das verstehe ich nicht. Weshalb habt Ihr den Menschen dann die Papperla-Papageien gegeben? Die plappern doch auf ihren Sitzstangen in einem fort.«
»Eben, kleines Mädchen. Eben! Sie war im Haus des Schweigens. Sie sollte wissen, was Wir mit den geschwätzigen Vögeln bezweckt haben.«
Pala nickte mit glasigem Blick. »Natürlich! Jetzt verstehe ich. Viele Menschen sitzen nur noch stumm da und hören dem leeren Gerede der Papperlas zu…«
»Wie ein Angler, der stundenlang im Trüben fischt«, sagte Zitto grinsend.
»Ab und zu sagen die Vögel auch etwas Kluges oder Schönes, Aufschluss- oder Lehrreiches, aber das ist nur Euer Köder, mit dem Ihr die Menschen bei der Stange haltet. In Wirklichkeit verlieren sie, ohne es zu merken, allmählich jedes Gefühl für die Schönheit der Sprache.«
»Wir zwingen sie nicht,
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