Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
»Weil die Welt, wie Wir befürchten mussten, noch nicht das vierzehnte Sonett gesehen hatte. Gaspares Erstgeborener war sein rechtmäßiger Erbe, aber er machte Schwierigkeiten, die…«
»Schwierigkeiten?«
»Ja. Eine Zeit lang haben Wir annehmen müssen, das letzte Sonett des Kranzes sei von ihm ungelesen verbrannt worden. Wir kehrten damals das Unterste zuoberst, um den Verbleib des verschollenen Gedichts zu klären. Es blieb unauffindbar. Einige Zeit später zahlten sich Unsere Mühen dann doch aus. Es wurde Uns versichert, das Sonett existiere noch. Nur leider erfuhren Wir weder, wo es war, noch wer es besaß. Zuletzt wäre Uns beinahe eine etwas zu lebhafte Lehrerin auf die Schliche gekommen.«
Palas Hände ballten sich zu Fäusten. »Dann hat Caterina Knüttelvers also im Keller ihrer Urgroßmutter tatsächlich herausgefunden, wie sich der Name unserer Stadt eines Tages in einen Fluch des ›Schweigens‹ verwandeln konnte.«
»Und zu allem Überfluss wollte sich diese Möchtegernpoetin auch noch erdreisten, ihrer Klasse die Form des Sonettenkranzes nahe zu bringen.«
»Ich kann mir das Sturmgeläut in Eurem Kopf lebhaft vorstellen. Und den anschließenden Wutanfall! Vermutlich haben die Wortklauber vor lauter Schreck erst von Caterina Knüttelvers gelassen, als sie völlig ausgesaugt war.«
Wieder lächelte Zitto dünn. »Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Nichtsdestotrotz mussten Wir Uns weiter um das verschollene Sonett sorgen. Caterina Animato selbst schied als Besitzerin des Sonetts aus und sie konnte Uns wegen des bedauerlichen Übereifers Unserer Klauber auch keinen Namen mehr nennen. Unser Plan stand auf Messers Schneide. Aber dann kam Sie Uns ins Haus spaziert. Wir sind auf Sie aufmerksam geworden, als Sie dem Treppenlabyrinth entkam. Nachdem Sie durch Lösung des zweiten Rätsels sogar Unser Schloss sichtbar gemacht hatte, war dann alles klar.«
Pala starrte ihn an. »Ihr meint das Je-näher-desto-ferner-Rätsel? Also ist das menschliche Vorurteil nicht die richtige Lösung?«
Zitto grinste. »Sagen wir, nicht die vollständige.«
Sie erinnerte sich: Wenn ihr richtiges Zuhause ganz woanders wäre, als sie vermutete, dann könnte sie sich ihm nähern und doch mit jedem Schritt ferner davon fühlen… Pala war wie vom Donnerschlag gerührt, als ihr plötzlich die Folgen dieses Gedankengangs bewusst wurden. Die Gleichheit der letzten Zeile ihres Geburtsgedichtes mit der ersten am Türpfosten von Nonno Gaspares Haus war gar kein Zufall. »Ich bin hier zu Hause«, flüsterte sie fassungslos. »Auf der Burg.«
Zitto lächelte anerkennend. »Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer. Genauso ist es, liebes Kind. Ist Ihr denn niemals Ihre erstaunliche Ähnlichkeit mit dem alten Gaspare aufgefallen: der hohe knochige Wuchs mit den großen schmalen Händen, die blauen Augen…? Bei allen Oratores findet Sie diese Merkmale, auch bei Uns. Ja, das ist die Wahrheit: Wir sind nicht nur Gaspares Vorfahr, sondern auch der Ihre. Somit ist Gaspare Ihr richtiger Großvater…«
»Und ich bin die Tochter von Primo, seinem ältesten Sohn. Dann ist Giuseppe ja – mein Onkel!«
»Wie sich doch alles fügt, nicht wahr, Pala? Nun ist Sie der Lösung Ihres Lebensrätsels ganz nah. Primo war der rechtmäßige Erbe des vierzehnten Gedichts. Damit stellte er eine große Bedrohung für Unsere Pläne dar. Wir mussten ihn von Silencia fortlocken. Das ist Uns auch gelungen, weil die Trauer ihn fast um den Verstand gebracht hatte…«
»Trauer? Um wen?«
»Seine Frau ist von ihm gegangen, kleines Mädchen – sie starb bei Ihrer Geburt.«
Pala nahm hastig einen tiefen Schluck Wasser. Ihre Hand zitterte. Nun hörte auch sie das Lärmen unter den Fenstern nicht mehr. Die Lösung ihres so genannten Lebensrätsels wuchs sich zu einer Tragödie aus. Gerade gefunden, wurde die leibliche Mutter ihr schon wieder entrissen. Und der Vater hatte jeden Lebensmut verloren. Am Burggraben war sie der Wahrheit schon sehr nahe gekommen, aber nun… Pala schluckte einen dicken Kloß hinunter.
»Wie bin ich zu meinen Zieheltern gekommen, Zitto?«
»Wenn Wir das wüssten, hätten Wir das vierzehnte Sonett schon früher gefunden.«
»Ob Vater mich gehasst hat?«
»Primo? Nein, das muss Sie nicht befürchten. Der Schmerz hat ihn betäubt. Er fühlte sich unfähig, für ein Neugeborenes zu sorgen. Deshalb gab er es fort.«
Palas Augen ruhten auf dem Grund des Silberbechers. Dann hatten ihre Gefühle sie also nicht betrogen.
Weitere Kostenlose Bücher