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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Morgen hatte sie Sandalen angezogen, nicht ahnend, welch halsbrecherische Kletterei ihr noch bevorstehen würde. Wenn sie doch nur festeres Schuhwerk ausgewählt hätte! Jetzt musste sie mit nackten Zehenspitzen nach Spalten zwischen den Felsblöcken tasten. Ihre schmerzenden Finger begannen allmählich zu rutschen. Lange würde sie sich nicht mehr halten können. Immer mehr lockerte sich der Griff ihrer Hände. Der Sturz in die dunkle Tiefe schien unabwendbar. Pala biss die Zähne aufeinander, kniff die Augen zusammen, suchte aufgeregt mit den Füßen nach irgendeinem und wenn auch noch so kleinen Vorsprung…
    Und plötzlich hatte sie den rettenden Tritt gefunden.
    Palas Herz pochte wie aufgezogen. Um neue Kraft zu schöpfen, stand sie einfach nur da, die Wange an den rauen, kühlen Stein gelehnt, schwer atmend, und sich fragend, wie lange sie wohl gefallen wäre. Nur einen Augenblick oder eine Ewigkeit? Was für ein grauenvoller Gedanke!
    Sie kämpfte gegen das Zittern in ihren Gliedern an, offenbar eine Folge der Anstrengung. Oder ließ die Angst sie erbeben, das ins Unterbewusstsein eingebrannte Bild eines unendlich langen Sturzes? Nur unter großer Anstrengung konnte Pala ihre Furcht bezwingen und nach unten blicken. Dort sah sie einen Abgrund, so tief, als hätte sie die Mauerkrone schon zweimal erklommen.
    Was sollte sie nun tun? Umdrehen oder weiterklettern? Was nie begonnen, kann auch niemals scheitern. Die Worte aus der Villa des Schweigens klangen wie ein ferner Ruf durch ihren Geist. Wollte das Sonett sich über sie lustig machen? Musste es nicht vielmehr heißen: Was einmal begonnen, wird niemals mehr enden? In diesem prüfungsreichen Moment regte sich eine fast schon überwunden geglaubte Schwäche Palas: ihr Trotz.
    »Ich werd’s dir zeigen, du blöder Steinhaufen«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, nahm allen Mut zusammen und setzte ihren Aufstieg fort. Was immer Zittos Bauleute mit dieser Mauer angestellt hatten, es musste doch irgendwie auszutricksen sein.
    Diesmal ging sie planmäßiger vor. Nur zehn Schritte, höher wollte sie nicht steigen. Als sie erneut die zurückgelegte Strecke überprüfte, nahm sie das enttäuschende Ergebnis gefasster auf. Die Mauer unter ihr war mindestens auf die vierfache Höhe angewachsen, aber dem oberen Ende hatte sie sich kaum um einen Fußbreit genähert. Sollte sie jetzt abstürzen, würde sie am Grund des Kreuzganges zerbersten wie eine überreife Birne.
    Pala klammerte sich an die Mauer und zwang ihren Atem einmal mehr in eine ruhigere Gangart. Bald taugst du nur noch für den Knochenhauer. Die Gedichtzeile an der Wand der Schreibstube zu ihrer Rechten schien sie von weit unten zu verspotten. Nur mit Mühe konnte Pala die hämischen Worte aus ihrem Sinn verbannen. Sie musste ihre Lage unbedingt neu überdenken. Wenn sie weiter versuchte, Nonno Gaspares Verdacht auf diesem Wege nachzugehen, dann würde sie vermutlich den Rest ihres Lebens an der Mauer zubringen müssen wie eine Eidechse, die sich von Fliegen und Würmern ernährt. Weil ihr diese Aussicht wenig verlockend erschien, beschloss sie umzukehren. Vielleicht war der sichere Boden ja noch nicht unerreichbar geworden.
    Ganz langsam setzte sie erst die eine, dann die andere Zehenspitze auf einen tieferen Absatz, folgte mit den Händen, suchte den nächsten Vorsprung und so arbeitete sie sich langsam nach unten. Sie wagte nicht hinabzusehen, überließ sich ganz dem Tastsinn ihrer Hände und Füße. Wieder erkundete sie mit dem großen Zeh die Mauer nach einem geeigneten Halt. Sie fand einen weit herausragenden Stein. Und erst als sie ihr ganzes Gewicht darauf verlagert hatte, brach der Fels aus der Mauer.
    Pala fiel. Und sie schrie. Beides zugleich.
    Der Abgrund war ungefähr eine Handspanne tief. Palas Schreck übertraf bei weitem ihre Verletzungen (bis auf eine Schramme am Knie fehlte ihr nichts). Sie saß in ihrem geblümten Frühlingskleid am Boden und versuchte diese merkwürdige Mauer zu begreifen. Nach oben war das Ding unendlich hoch, aber nach unten lächerlich niedrig.
    Mit finsterer Miene sah sie zu dem Wandgedicht des Skriptoriums hin. Im Dunkeln tappen hin und her und tasten… Irgendwie kam sie sich schon wieder verhöhnt vor. Der neue Burgherr verbarg etwas hinter seiner Mauer und er tat es sehr geschickt. »Man könnte glauben, er hätte sie verhext, damit keiner drübersteigen kann«, knurrte Pala leise, stemmte sich mit einem Ruck vom Boden hoch und entschwand in

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