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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Nina und sie denn niemand? Als sie ihre Mutter darauf ansprach, antwortete die: »Natürlich seid ihr wer, meine Große. Deshalb arbeite ich ja zu Hause. Da kann ich auf Nina aufpassen, dir bei den Hausaufgaben helfen, nebenbei dem Papagei zuhören und auch noch Geld verdienen. Ich möchte auch wie die anderen Frauen etwas Sinnvolles machen.«
    Von diesem Tage an hielt sich Pala immer seltener zu Hause auf. Wenn Nina weinte und die Heimarbeit sich auf dem Küchentisch türmte, dann konnte schon ein falsches Wort zu einer Katastrophe führen. Mutter war oft nervös und neigte zum Schreien. Mehrmals hatten sich schon die Nachbarn beschwert. Wie früher suchte sich Pala zum Nachdenken ruhige Orte – auf dem Dach des Hauses oder im Geäst eines Lorbeerbaumes –, nur jetzt blieb sie oft viele Stunden dort. Immer wieder zerbrach sie sich den Kopf darüber, warum Nonno Gaspare so hartnäckig auf den Schlossberg deutete, wenn sie ihn in Zeichensprache nach der Ursache seiner Stummheit fragte. Natürlich ließ sich ein Zusammenhang zwischen Zittos Auftauchen und den Veränderungen in der Stadt nicht ganz leugnen, aber wie und warum sollte der Fabrikbesitzer Menschen buchstäblich zum Schweigen bringen?
    Weil Nonno Gaspare ihr, aus verständlichen Gründen, kaum weiterhelfen konnte, machte Pala sich anderswo in der Stadt auf die Suche nach des Rätsels Lösung. Sie wurde in der Redaktion des Silencia-Boten und der anderen beiden Zeitungen vorstellig, sie löcherte die Angestellten der Stadtbücherei und sie fragte Caterina Knüttelvers. Die Lehrerin war eine große Freundin wohlgesetzter Worte. Selbst unermüdlich reimend eiferte sie, mit eher mäßigem Erfolg, den großen Poeten nach. Eigentlich hieß sie Caterina Animato, aber weil sie das Unterrichtsfach »Dichtung« dank ihrer außerordentlichen Hingabe und dem schier unerschöpflichen Vorrat eigener, bisweilen komisch schräger Verse stets zu einem Erlebnis machte, hatte sie sich ihren Beinamen bei den Schülern redlich verdient. Pala jedenfalls mochte Caterina Knüttelvers sehr und sie spürte, dies beruhte auf Gegenseitigkeit.
    »Wie meinst du das, Pala?« Die Lehrerin sah ihre Schülerin mit eng zusammengezogenen Augenbrauen an.
    »Wir haben so viele alte Gedichte und Geschichten in der Stadt«, sagte die Schülerin und bewegte dabei die Hände, als spräche sie mit Nonno Gaspare, »da muss es doch auch irgendwo etwas über Silencias Namen geben.«
    Caterina Knüttelvers runzelte die ohnehin schon gefurchte Stirn. Sie war ein Fräulein von ungefähr fünfzig Jahren, das sich gleichwohl elegant zu kleiden wusste. Ihr fescher kurzer Haarschnitt gewann durch die ersten silbernen Fäden sogar noch an Schick. Sie war klein, zierlich und manchmal ziemlich ungeduldig. »Habe ich euch das im Unterricht nicht schon hundertmal erzählt? Silencia bedeutet ›Schweigen‹ oder ›Stille‹, es…«
    »Sehen Sie«, unterbrach Pala ihre Lehrerin aufgeregt, »und genau das erleben wir gerade: Die Menschen werden stumm – manche buchstäblich, andere, weil ihre Sprache ihnen nichts mehr bedeutet. Wer hat der Stadt ihren Namen gegeben?«
    »Bist du jetzt fertig?«, fragte Caterina Knüttelvers.
    »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbrochen habe«, sagte Pala kleinlaut.
    »Ich vermute, dir hat da irgendjemand einen Floh ins Ohr gesetzt«, überging die Lehrerin den Regelverstoß ihrer Lieblingsschülerin. »Die größten Kapazitäten auf dem Gebiet der Sprachforschung suchen nach der Ursache für die seltsame Verflüchtigung der Worte und du meinst die Erklärung in irgendeiner alten Volkssage zu finden?«
    »Bedeutet das, Sie wissen nicht, warum Silencia ›Schweigen‹ heißt, obwohl hier doch jahrhundertelang fast nur geredet wurde?«
    »Es ist die Ruhe des Friedens, die dem Namen Sinn verleiht«, antwortete Caterina Knüttelvers mit entrücktem Blick.
    »Wenn das mal kein Unsinn war.«
    »Wie bitte?«
    »Bei uns zu Hause wird kaum noch miteinander geredet und wenn, dann oft im Streit. Eine schöne Ruhe nenne ich das.«
    »Worauf willst du eigentlich hinaus, Pala?«
    Die Schülerin blickte ihrer Lehrerin fest ins Gesicht. »Ich brauche Ihre Hilfe. Bitte! Gibt es irgendein Volksmärchen, ein Lied, eine Sage oder sonst eine Überlieferung, in der von Wortfressern die Rede ist?«
    Gespräche sind wie Wasser: Sie spenden Leben, aber ohne Nachschub versickern sie schnell. Zu dieser Überzeugung gelangte Pala, während sich das Rad der Jahreszeiten langsam weiterdrehte. Sie konnte

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