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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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fühlen, wie das lebendige Treiben nicht nur zu Hause, sondern in der ganzen Stadt austrocknete. Der Wandel vollzog sich auf eine schleichende Weise. Pala beobachtete ihn wie durch eine Lupe. Für Kinder sind wenige Jahre noch ein Großteil ihrer Lebenszeit, Erwachsenen dagegen zerrinnen ein paar Dutzend Monate wie Wasser zwischen den Fingern, sie nehmen sie kaum wahr. Schon die äußerlichen Veränderungen, die Pala an sich selbst feststellte, waren alles andere als belanglos. Natürlich schoss sie weiter in die Höhe, aber ihre Körperformen wurden dabei auch runder und weiblicher. Pasquale hinkte ihr in mancher Hinsicht noch immer hinterher. Beunruhigender als diese Entwicklungen blieben für sie jedoch jene, die sich in Silencia vollzogen.
    Anfangs hatte sich Caterina Knüttelvers nicht sehr viel Mühe gegeben, Pala in ihrer Suche nach den Wortfressern zu unterstützen. Tollheit nannte sie den Eifer, mit dem Pala um die Rückkehr von Nonno Gaspares Sprache kämpfte. Keiner der Sprachschwindsüchtigen war bisher geheilt worden. Doch auch der Lehrerin entgingen die Veränderungen in Silencia nicht und so ließ sie sich langsam – nach Palas Empfinden zu langsam – für eine Mitarbeit gewinnen.
    Seit einigen Wochen nun durchforsteten beide die Archive der Stadt, die Regale von Bibliotheken und die Erinnerungen alter Menschen. Ihre Suche nach dem Geheimnis des Sprachschwundes wurde durch die vorausgegangene Verarbeitung zahlreicher Bücher zu Medizin erschwert. Solche Werke waren unrettbar verloren. Und nun machte ihnen Zitto Schwierigkeiten: Ein von ihm bezahltes, »gemeinnütziges Institut« hatte sich der Konservierung der Sprache verschrieben.
    Das Programm zur Erhaltung jederlei Schrifttums beruhte auf einem einfachen Gedanken, der sich im Bankgewerbe bereits bestens bewährt hatte: Was man wegschließt, kann einem so schnell nicht genommen werden. Die Umsetzung der Idee äußerte sich wieder einmal in der Verteilung von Fragebögen.
     
    Führen Sie ein Tagebuch?, hieß es da. Und damit war noch lange nicht Schluss.
    Besitzen Sie Tagebücher anderer Personen? (Ehepartner, Eltern, Geschwister, Kapitäne etc.)
    Gibt es in Ihrer persönlichen Ablage Briefe? (Geschäftsbriefe, Liebesbriefe, Schmähbriefe etc.)
    Verfassen Sie oder besitzen Sie Gedichte? (Gebrauchsdichtungen, Schüttelreime, Sonette etc.)
    Welche Bücher nennen Sie Ihr Eigen?
    (Titel bitte vollständig und in Druckbuchstaben auflisten)
     
    Wer die Formulare ausfüllte, bekam kurze Zeit später Besuch von den Mitarbeitern des Instituts »Arche Zitto«. Diese baten die Schrifttumbesitzer um Herausgabe ihrer sämtlichen Dokumente und Bücher »zum Zwecke der dauerhaften und absolut modersicheren Einlagerung«. Die Konservierung der eingesammelten Unterlagen diene der Erforschung und Erhaltung der Sprache, vergaßen sie nicht dutzend Mal zu wiederholen und ernteten dafür viel Entgegenkommen. Die Menschen fürchteten um den Verlust ihres eigenen Wortschatzes, da wollten sie wenigstens ihre aufgeschriebenen Gedanken diebstahlsicher in Zittos Wortbank hinterlegen.
    Pala hörte kein einziges Mal von Abhebungen derartiger Worteinlagen. Silencia wurde leer geräumt und Arche Zitto archivierte. Auch die umfangreiche Stadtbücherei wurde dem Institut unterstellt, blieb aber bis auf weiteres geöffnet. Von den Verantwortlichen der Gemeinde wurden diese Maßnahmen als »notwendige Konzentrierung zur Bewahrung der Sprache« unterstützt, im Alltag beobachtete Pala jedoch nur den Rückzug des geschriebenen wie auch des gesprochenen Wortes. Ob es nun die eigenen Eltern waren oder die Nachbarn, überall verlernten die Menschen miteinander zu reden. Unfähig, Meinungsverschiedenheiten in einer besonnenen Aussprache zu klären, entledigte man sich ihrer lieber durch verletzende Worte, oft wurden sie auch einfach totgeschwiegen. Längere Gespräche, so eine weit verbreitete Meinung, behinderten nur das Streben nach persönlichem Erfolg und Selbstverwirklichung.
     
     
    »Ich will endlich auch mein eigenes Geld verdienen. Schließlich habe ich als Frau dieselben Rechte wie du. Die Stelle in Zittos Zentralverwaltung bringt doppelt so viel ein wie die Heimarbeit.«
    Die temperamentvoll vorgetragenen Worte der Mutter klangen in Palas Ohren seltsam abgedroschen – die Papperla-Papageien wiederholten Derartiges mehrmals täglich.
    »Und was wird aus den Kindern?«, fragte Vater.
    »Es ist ja nur eine Halbtagsstelle. Pala verbringt den Vormittag sowieso in der Schule und

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