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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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wie ja schon bei den gezeichneten Bildern, kaum fähig. Nonno Gaspare vermochte dagegen schon bald mit geradezu spielerischer Leichtigkeit bestimmte Gegenstände oder persönliche Erfahrungen bildhaft mit den Händen zu beschreiben. Und Pala tat es mit ihm. Wenngleich es der Wortschatz zweier kleiner Kinder war, auf den sie sich beschränken mussten, lernten beide auf diese Weise ein zweites Mal das Sprechen.
    Ihre wachsende Geschicklichkeit im Umgang mit der Zeichensprache war nur eine der Veränderungen, die sich in den Tagen nach Palas Entlassung einstellten. Als sie bei einem nächtlichen Streifzug durch die Wohnung dem ehemaligen Zimmer ihrer Großmutter einen Besuch abstattete, machte sie eine erstaunliche Entdeckung. All die noch unerforschten Kisten und Säcke – der geheimnisvolle Pappkarton mit den vergilbten Papieren eingeschlossen – waren verschwunden, die alten Möbel blitzsauber geputzt und sogar zwei üppig sprießende Blumentöpfe standen auf der Fensterbank. Pala wurde das Gefühl nicht los, hier wäre mehr als nur Staub und Gerümpel beseitigt worden. Sie hatte diese Neuerung noch nicht ganz verkraftet, da flatterte auch schon die nächste ins Haus. Die Quarantäne lag nun ungefähr eine Woche hinter ihr, als die Familie in helle Aufregung versetzt wurde. Schuld daran war das große durchlöcherte Paket, das Palas Vater abends von der Arbeit mitbrachte.
    Kostspielige Geschenke waren im Familienkreis seltene Ereignisse, ungefähr so häufig wie totale Sonnenfinsternisse. Mit dem wenigen Geld, das Vaters Arbeit in der Autowerkstatt einbrachte, musste sehr viel bezahlt werden. Nur dank eiserner Sparsamkeit konnte man sich ab und zu etwas Besonderes leisten, ein neues Kleid für die Mutter, einen Kurzurlaub am nahen Meer oder gar ein Schwesterchen für Pala. Was also war in dem Karton?
    Ein Geschenk von Zittos Firma, verriet Vater schon vor dem Abendessen, machte die feierliche Enthüllung desselben dann aber sehr spannend. Während sich alle an Brot und Käse gütlich taten, erzählte er die letzten Neuigkeiten aus der Autowerkstatt. Zitto habe den Reparaturbetrieb gekauft. Jetzt sei er, der Vater, also stolzer Angehöriger des angesehensten Firmenreiches im ganzen Land. Vor Arbeitslosigkeit brauche man sich nicht zu fürchten, hatte die neue Geschäftsleitung versichert. Im Gegenteil, man wolle die Mitarbeiter schulen, um ihr berufliches Fortkommen und damit ein stetes Einkommenswachstum zu sichern. Als kleines Zeichen des guten Willens habe Zitto jedem Neuzugang seiner Belegschaft ein solches Geschenk gemacht.
    Jeder am Tisch blickte zu dem Karton, der auf einem Stuhl neben der Spüle stand. Pala lauschte. Hatte es in der Kiste nicht eben geraschelt?
    »Was ist da drin, Papa? Ein Haustier?«
    »Also gut«, sagte ihr Vater. »Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen. Du darfst aufstehen und es auspacken, Pala.«
    Augenblicklich sprang Pala von ihrem Stuhl und machte sich an der Verpackung zu schaffen. Durch eines der Luftlöcher blickte sie ein großes Auge an.
    Ein wenig mulmig war ihr schon zumute, als sie langsam den hohen Deckel von der Unterlage hob. Zunächst sah sie eine runde, golden glänzende Platte mit hochgezogenem Rand. In dieser Schale befand sich ein weißes, feinkörniges Pulver und mitten heraus wuchs ein hölzerner Stiel. Dann kam eine quer stehende Stange zum Vorschein, die zwei nackte, graubraune Füße mit langen Krallen umklammerten.
    Pala hielt die Luft an. Was für ein Tier mochte Zitto da für seine neuen Arbeiter ausgesucht haben? Sie nahm all ihren Mut zusammen und lüpfte nun vollends den Deckel.
    »Was ist das denn für ein komischer Vogel?« Palas Verwunderung war unüberhörbar. Auf dem Stuhl vor ihr hockte ein Federvieh von der Größe ihrer kleinen Schwester. Es sah aus wie ein Papagei und begann auch sofort zu plappern wie ein solcher.
    »Im Namen Zittos heiße ich Sie herzlich willkommen«, sagte der Vogel mit einer etwas kehligen, gleichwohl nicht unangenehmen Stimme, »und beglückwünsche Sie zu ihrer klugen Wahl. Was Sie schon immer wissen wollten, erfahren Sie ab jetzt von mir. Klatsch, Tratsch und brandheiße Neuigkeiten, spannende Geschichten und beschwingte Lieder. Endlich können Sie sich den ermüdenden Gang zum Marktplatz sparen, denn bei mir bekommen Sie alles frei Haus geliefert. Schon in wenigen Tagen werden sie mich nicht mehr missen wollen, denn…«
    Pala starrte den knallbunten, unentwegt plappernden Riesenvogel mit offenem Mund an.

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