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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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erreicht und entdeckte Pasquale. Sie kämpfte sich durch die Menge und legte ihm die Hand auf die Schulter.
    »Was ist denn passiert, Pasquale?«
    »Wollen ihm den Prozess machen, haben die Polizisten gesagt.« Eine schwielige Pranke schlängelte sich aus der Masse, klopfte dem Jungen auf die Schulter und verschwand sogleich wieder.
    Pala schüttelte nur den Kopf. »Aber er hat doch nichts verbrochen! Oder etwa doch?«
    »Die haben ihm den Haftbefehl vorgelesen. Er ›gefährde das Kindeswohl‹, hieß es darin. Mit dem Kind bin scheinbar ich gemeint.«
    »Aber das ist doch lächerlich, Pasquale! Dein Vater hat dich immer geliebt. Er sorgt allein besser für dich als die meisten anderen Eltern.«
    »Der Haftbefehl behauptet das Gegenteil. Er ›verneint alle Werte‹, steht da, ›die für eine reibungslose Integration des Kindes in die Gesellschaft unabdingbar sind‹. Die Worte sind so kompliziert gewesen, Pala. Auf alle Fälle will man mich in ›staatliche Obhut‹ geben, in ein Waisenhaus oder so was, nehme ich an. Ich konnte mir nicht alles merken, aber ich glaube, man wirft Papa vor, aus mir einen Verseschmied oder Träumer zu machen, der seine Zeit mit vielen Worten verplempert und sich von den anderen durchfüttern lässt.«
    »Ganz verwahrlost ist der Junge, pfui!«, zischte ein Passant und spuckte auf die Erde.
    Pala hatte den schwitzenden, unrasierten Mann mit den fehlenden Schneidezähnen noch nie gesehen. »Kennen Sie den Verhafteten denn?«
    »I wo, aber dieses Dichterpack ist doch überall gleich. Wenn der Staatsanwalt ihn verhaften lässt, wird’s schon seinen Grund haben.«
    »Und ich dachte immer, der Richter und seine Beisitzer entscheiden über die Schuld eines Verdächtigten.«
    Der Fremde funkelte Pala böse an. »Bist wohl auch von der Sorte, die einem die Worte im Mund umdreht. Scher dich bloß weg von hier! Mit solchen Wortklaubern wie dir wollen wir hier nichts zu tun haben.«
    Pala erschrak. Sie merkte, wie ihr Kinn herunterklappte, bekam den Mund aber trotzdem nicht mehr zu. Weniger die Dreistigkeit dieses Unbekannten, der sie von ihrer eigenen Haustür verjagen wollte, hatte sie derart aus der Fassung gebracht, sondern vielmehr ein einzelnes Wort seiner letzten Bemerkung. Als hätte die Schimpfkanonade einen Erdrutsch in ihrem Kopf ausgelöst, war mit einem Mal die Erinnerung an einen aufregenden Nachmittag mit Nonno Gaspare zurückgekehrt. Damals, es musste schon etliche Jahre her sein, hatte er für sie sprachgewaltig eine alte Sage zum Leben erweckt. Darin ging es um Wortklauber. Ja, genau diesen Namen hatte der Geschichtenerzähler benutzt. Ebenso wie jetzt dieser Wüterich da auf der Straße.
     
     
    Wortklauber waren dem Volksglauben nach kleine Scheusale, die einem finsteren Herrn dienten. Ihr ganzer Daseinszweck bestand darin, den Menschen die Worte abzusaugen. Weiter reichten Palas Erinnerungen nicht mehr. Sie musste noch sehr klein gewesen sein, als Nonno Gaspare ihr die Geschichte erzählt hatte.
    Inzwischen konnte sie ein Lied davon singen, welchen Schaden die seltsame Verflüchtigung der Worte anrichtete. Anstatt Antworten zu bekommen, steckte sie durch die so plötzlich freigelegte Erinnerung nun bis zum Hals in neuen Fragen: Wie und warum waren die großen Denker der Stadt ihrer Worte beraubt worden? Weshalb hatte der Sprachschwund hierauf jene andere, viel unauffälligere Form der Wortverflüchtigung angenommen? Warum war Caterina Knüttelvers, anders als jeder bis dahin bekannte Fall, zunächst vom Silbenschwund und erst anschließend vom Totalverlust des Wortschatzes heimgesucht worden? Welcher wahre Kern – jede Sage hatte einen solchen – steckte hinter den Wortklaubern? Und vor allen Dingen: Was hatte das alles mit dem öffentlichkeitsscheuen Fabrikbesitzer in seiner wieder hergerichteten Ruine zu tun?
    »Aber das ZzZzZzZ ist doch nur vernünftig und richtig, meine Große«, sagte die Mutter beim Abendbrot. Nina war mit einem angebissenen Brot in der Hand eingeschlafen, Vater büffelte noch in der Abendschule für die Meisterprüfung und Papperlapapp hielt endlich seinen Schnabel, nachdem Pala ihn mit Futter, frischem Wasser sowie Papageienstreu versorgt und anschließend zugedeckt hatte. In der Küche herrschte eine seltene Stille.
    Die Mutter lächelte müde. »Schau mal: Wer möchte schon Zinsen schießen lassen, auf die er ein Anrecht hat? Und wer will sich dem Vorwurf aussetzen, der Vergangenheit nachzuhängen, wenn Bürgermeister Zitto doch eine so

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