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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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strahlende Zukunft verheißt?«
    »Noch ist er nicht gewählt«, brummte Pala und schob ihren Teller von sich. Sie ahnte schon, was Mutter darauf sagen würde.
    »Das ist nur noch eine Frage der Zeit, Pala.«
    »Auf die Antwort habe ich gewartet.«
    »Na, wie schön! Und jetzt hol dir bitte wieder den Teller heran und iss noch etwas, sonst siehst du bald aus wie die armen hungernden Kinder, von denen Papperlapapp ständig erzählt.«
    Pala stieß ihren Stuhl zurück und fuhr empört vom Tisch auf. »Ich verstehe überhaupt nicht, wie du die Verhaftung von Pasquales Vater so wortlos hinnehmen kannst.«
    »Was heißt hier wortlos? Ich habe ihm schon immer geraten, seinem Sohn nicht solche Flausen in den Kopf zu setzen: Gedichte, kluge Sprüche. Heutzutage braucht man die Ellbogen, um nicht unterzugehen, Pala. Die alten Tugenden muss man nicht so ernst nehmen. Sparsamkeit bremst das Wirtschaftswachstum, schöngeistiger Gedankenaustausch verblendet nur und macht weltfremd. Und Ehrlichkeit? Ha!« Sie lachte, als habe sie eine herrliche Posse gerissen. »Warum wird Ehrlichkeit wohl so oft als ›schonungslos‹ bezeichnet? Weil sie eben mehr wehtut als eine Notlüge. Wer sich von einer kleinen Flunkerei heute noch verletzen lässt, dem ist nicht zu helfen.«
    »Na schön«, sagte Pala, ging um den Tisch und strebte auf die Küchentür zu, »dann steige ich jetzt aufs Dach und springe hinunter. Du kannst mich ja nach Papperlapapps Abendnachrichten vom Pflaster abkratzen.«
    »Kind!«, stieß die Mutter hervor, fuhr nun ihrerseits kerzengerade vom Tisch auf und rang bestürzt die Hände vor der Brust. »Was redest du da!«
    Pala lächelte zuckersüß. »War nur eine Notlüge, Mama. Du hast ja gesagt, die tue niemandem weh.«
     
     
    Nicht wenige der vor Jahren noch sehr angesehenen Dichter und Denker Silencias wurden nun als verschroben, wenn nicht gar gefährlich angesehen. Um die Jugend vor ihrem Gedankengut zu schützen, wurden lange Listen angefertigt, die man »Index« nannte. Auf dem Index zu stehen hatte für einen Schriftsteller unangenehme Folgen. Es kam einem beruflichen Todesstoß gleich. Seine Schriften wurden, je nach Farbe des Index, entweder ganz verboten oder mit dem Stempel »Dichtung« öffentlich gebrandmarkt. Eine Auswahl der als besonders gefährlich eingestuften Aufsätze, Romane und Dichtungen stellte das Kulturamt von Silencia im Stadtmuseum aus, wo sie jedermann in Glaskästen bestaunen und sich mit einem wohlig gruseligen Schauer von ihnen abschrecken lassen konnte. All diese Maßnahmen wurden der Öffentlichkeit als »Sprachrevolution« verkauft.
    Pasquales Vater kam bei dem hoheitlich angeordneten Säuberungsfeldzug noch einigermaßen glimpflich davon. Man verurteilte ihn zu sechs Monaten Gefängnis, setzte die Strafe aber auf Bewährung aus.
    Allerdings wurde ihm per amtlicher Verfügung jegliches Reimen »jugendgefährdender« oder »Sitte und Anstand« verletzender Verse untersagt. Seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft förderte Zitto mit einer, wie es in der Urteilsbegründung hieß, »besonders großmütigen Tat«. Der zukünftige Stadtvater stellte den nun Vorbestraften als Werbetexter ein. In Zukunft musste sich Pasquales Vater also so sinnige Sprüchlein wie ZzZzZzZ einfallen lassen.
    Die Zeitungsseiten des Silencia-Boten im Schaukasten wurden immer bunter: Bilder pflasterten das Papier, wo früher Texte standen. Nachdem die Papperla-Papageien ihren Besitzern lange genug eingebläut hatten, wie mühsam das Lesen sei, wollten die Menschen es auch nicht mehr. Obwohl diese Unlust in erheblichem Umfang auch die Heranwachsenden ansteckte, waren die wenigstens sehr erfinderisch im Ersinnen neuer Klanggebilde, die sie ihrer Sprache beimischten. Manchmal allerdings erschien Pala dieser Jargon den Grunzlauten bestimmter Borstentiere verdächtig ähnlich.
    Pala wollte in Sprache, Aussehen und Verhalten nicht ihr Selbst aufgeben, gleichwohl sehnte sie sich genau wie ihre anderen Altersgenossen nach festen Orientierungspunkten. Die Familie kam manchmal tagelang nicht vollzählig zusammen. Zu beschäftigt, hieß die knappe Begründung der Eltern. Pala durchschaute diese Ausflucht. Vater und Mutter scheuten die Begegnung in vier engen Wänden. Man hatte verlernt miteinander umzugehen. Probleme zogen unweigerlich Streit nach sich. »Wer am lautesten schreit, hat gewonnen«, lautete das neue Familienspiel – Pala und Nina waren darin immer die Verlierer.
    Ungefähr einen Monat vor der

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