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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Bürgermeisterwahl, in der Zitto endgültig zum unumschränkten Herrscher über Silencia aufsteigen wollte, zog ein besonders heftiges Wortgewitter durch die Wohnung in der Alexandrinergasse. Es ging in dem Streit um eine Zahnpastatube, die Mutter nach Vaters Ansicht nicht vorschriftsmäßig aufgerollt hatte. Die Eltern waren erhitzt wie selten. Nina kauerte verängstigt unter dem Tisch. Papperlapapp bot den puterroten Parteien pausenlos plappernd Paroli. Pala war es längst leid, sich als Schlichterin zwischen den Streithähnen Blessuren einzuhandeln. Sie verkrümelte sich in ihr dunkles Zimmer, warf sich auf ihr Bett und starrte zornig den Bilderrahmen mit ihrem Geburtsgedicht an. Im Mondlicht konnte sie zwar die vierzehn Zeilen des Sonetts erkennen, seine Worte jedoch nicht entziffern. Aber das brauchte sie auch nicht. Sie kannte die Verse in- und auswendig.
    Irgendwann kippte ihr Bett mit einem Ruck zur Seite und schleuderte sie heraus. Obwohl sich die Bettkante nicht gerade in bedrohlicher Höhe befand, riss Pala unwillkürlich die Arme hoch, um einen Halt zu finden. Dabei schlugen ihre Hände hart gegen kalten Stein. Der Schmerz ging ihr durch Mark und Bein. Sie wollte schreien, konnte es aber nicht. Kein einziges Wort kam heraus. Verzweifelt blickte sie nach unten und erschauerte, weil sie aus unerfindlichem Grund an Zittos Mauer hing.
    Der Boden des Kreuzganges lag erschreckend weit unter ihr. Keuchend sah sie zur Mauerkrone nach oben. Auch diese war unerreichbar fern. Von ihrer misslichen Lage überrascht, verlor sie den Halt. Diesmal blieb alles Herumfuchteln mit den Armen fruchtlos, der Sturz in die Tiefe war nicht mehr zu verhindern. Wieder wollte Pala um Hilfe rufen, aber jemand schien ihren Hals zugeschnürt zu haben. Abgesehen von ein paar gurgelnden Lauten brachte sie nichts hervor.
    Gedanklich richtete sie sich jetzt auf das Schlimmste ein: den harten Aufprall, der ihren Körper wie ein rohes Ei zerplatzen lassen würde, und eine Menge Schmerz. Aber dann wäre wenigstens alles vorbei. Die Luft pfiff in ihren Ohren, alle Haare standen ihr zu Berge. Sie fiel und fiel und fiel…
    Aber sie schlug nicht auf. Es war ein Sturz ins Bodenlose. Palas tonloser Hilferuf fühlte sich inzwischen wie ein dickes Knäuel an, das sich langsam durch ihren viel zu dünnen Hals zwängte und zum Luftholen keinen Platz mehr ließ. Ihr Kopf wuchs dem Anschein nach mit jedem angstvollen Herzschlag um das Doppelte seiner vorherigen Größe. Jeden Moment würde er platzen…
    Und dann wachte Pala auf.
    Schweißgebadet fuhr sie aus dem Bett hoch. Wie sie diesen Traum hasste! In letzter Zeit suchte er sie immer öfter heim, nun schon fast jede Woche.
    Ihr wild pochendes Herz wollte sich nur langsam beruhigen. Ob die Albträume etwas mit der seltsamen Verflüchtigung der Worte und den damit einhergehenden Veränderungen in ihrem Leben zu tun hatten? In Palas Kopf drehten sich das Wortgefecht der Eltern und der Sturz ins Nichts wie zwei Streithähne umeinander. Jeder Gedanke schien den anderen niederzwingen zu wollen. Ans Schlafen war nun überhaupt nicht mehr zu denken, schon allein deshalb nicht, weil die Furcht vor dem nächsten Sturz sie schreckte. Aufgewühlt wie lange nicht mehr kletterte sie daher aus dem Fenster.
    Missmutig stapfte Pala durch die dunklen verwinkelten Gassen der Stadt. Es war stürmisch in dieser Nacht, obwohl am Sternenhimmel nur wenige Wolken hingen. Bald würde der Sommer vorüber sein. Ihre Füße brachten sie wie Träger, denen sie blind vertraute, zu dem alten verfallenen Kloster. Sie gab Zitto die Schuld am Zerfall ihrer Familie und deshalb zog es sie wohl zu diesem unseligen Ort. Das Gemäuer war für sie ein steinernes Rätsel, ein Sesam-öffne-dich, das sie nur entschlüsseln musste, um sich Einlass in den Schlossgarten zu verschaffen.
    Als die hohen Mauern der Basilika vor ihr aufragten, verließ sie jedoch der Mut, noch einmal hineinzugehen, um ihre Suche mit einem Erfolg zu krönen. Die Papperla-Papageien hatten von einer strengen Bewachung der Grenzmauer berichtet. Unschlüssig blieb sie stehen und spähte nach den Posten. In diesem Moment rissen die über den Himmel jagenden Wolken auf. Es wurde hell, so licht wie es der pralle Mond dieser Nacht im Verein mit den Sternen nur schaffen konnte. Palas Blick schweifte zu dem überdachten, teilweise eingestürzten Säulengang an der Außenseite des Gotteshauses hin. Dort, so überlegte sie, würde sich wohl ein windgeschütztes Plätzchen finden

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