Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Giuseppe.
Sie warf die Arme hoch und ließ sie wieder herabfallen. »Ach, was soll’s. Es gibt Wichtigeres, als sich über alte Gedichte den Kopf zu zerbrechen.«
Etwas stimmte nicht. Pala hatte es schon nach kurzer Zeit bemerkt. An ihrer Seite grübelte Giuseppe still vor sich hin. Die Hände in den Hosentaschen, hatte er den Blick nach unten gerichtet und schien seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Zunächst zögerte Pala noch unschlüssig, weil der Serpentinenweg ja, um dem Hang die Steilheit zu nehmen, nicht direkt auf die Burg zuführte. Aber nun wurde ihr die Sache doch unheimlich.
»Warte mal!«, stieß sie hervor und blieb unvermittelt stehen.
Giuseppe lief noch zwei Schritte weiter, bis er aus seiner Versenkung auftauchte. »Was?«
Pala deutete den Berg hinauf. »Wie weit, schätzt du, ist die Festung entfernt?«
Die Augen des Erzählers folgten ihrem ausgestreckten Arm und wurden plötzlich starr. »Das gibt’s doch nicht!« Giuseppe schüttelte ungläubig den Kopf. Obwohl sie sich der Zitadelle genähert haben mussten, schien sie weiter entfernt als noch zu Beginn ihres Fußmarsches. »Das Wetter ist heute so komisch. Vielleicht ist es ja eine Täuschung, eine Luftspiegelung oder so etwas.«
»Wenn man die Wahrheit nicht glauben will, zimmert man sich eben eine passende Erklärung.«
Der junge Geschichtenerzähler blickte entgeistert das Mädchen an, dann die flüchtige Burg und zuletzt wieder Pala. »Aber so etwas gibt es doch nicht!«
»Das sagtest du bereits. Anscheinend hast du meine Geschichte über Zittos Mauer nicht ernst genommen. Mit diesem Bergweg ist es genau das Gleiche: Je näher wir dem Ziel kommen, desto weiter entfernt es sich von uns.«
Giuseppe schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht glauben und du hast sogar Recht: Ich will es auch nicht.«
Er ballte die Fäuste, hielt die angewinkelten Arme eng an den Körper gepresst und stapfte trotzig den Kiesweg hinauf. Pala hatte Mühe, ihm zu folgen. Bald stießen sie auf den schon vorher erspähten Bach.
Eine hölzerne Brücke überspannte den schmalen Wasserlauf. Nahebei stand eine Trauerweide, die fürwahr einen bemitleidenswerten Anblick bot: Kein einziges Blatt hing mehr an ihren peitschenartigen Zweigen, dabei hatte der Herbst erst begonnen. Ihr dicker, knorriger, offensichtlich uralter Stamm ragte weit über das Wasser, als suche sie dort ihre verloren gegangenen Blätter. Während Pala der Brücke entgegenstolperte, ruhte ihr Blick auf dem Baum und schien sich nicht mehr von ihm lösen zu lassen. Sie hörte Giuseppe kaum zu, der sich gerade über den Bach wunderte. So weit oben, wie er entsprang, musste er auch von jenseits der Mauer zu sehen sein. Aber der Erzähler hatte ihn noch nie bemerkt.
»Er weint«, sagte Pala unvermittelt.
»Wer? Der Bach?«
»Unsinn. Ich rede von dem Baum da.« Sie bog vom Weg ab, um die Trauerweide näher in Augenschein zu nehmen. Giuseppe stöhnte leise, folgte ihr dann aber doch.
Staunend blieb Pala vor dem kahlen Baum stehen. Manchmal, wenn im Frühling ein später Kälteeinbruch noch einmal Frost brachte, besprühten die Obstbauern rund um Silencia ihre Bäume mit Wasser, damit sich um die zarten Blüten eine schützende Eisschicht bildete. Es war unglaublich, aber genauso glitzerten die glatten, gelbgrünen Äste der Trauerweide. Und am Ende der langen Peitschen tropften – Pala wollte kein besseres Wort dafür einfallen – Tränen herab.
Weil die Weide sich ja, wie in Gram gebeugt, weit über das Wasser neigte, wurden die meisten herabfallenden Tröpfchen vom schnell dahinfließenden Bach mitgenommen. Pala ging ganz nahe an einen der dünnen, gebogenen Zweige heran. Nein, da tropfte kein tauender Eispanzer, sondern ein feiner Wasserfilm, der die Weidengerte völlig umschloss. Über Palas rechter Schulter ertönte Giuseppes Stimme, unüberhörbar beeindruckt und zugleich um Sachlichkeit bemüht.
»Dafür gibt es bestimmt eine vernünftige Erklärung. Es ist sehr warm hier. Die Feuchtigkeit könnte sich auf den Ästen des Baumes niederschlagen und deshalb an ihnen herablaufen.«
Anstatt zu antworten, legte Pala den Kopf in den Nacken und sah zur Krone der Weide hinauf. Es wehte nicht das geringste Lüftchen, keine der Peitschen bewegte sich und trotzdem drang aus den Zweigen ein Geräusch. Nie hätte sich Pala so etwas vorstellen können, aber dieses Säuseln hörte sich seltsam schwermütig und dunkel an, fast wie ein leises Klagen. Das Mädchen streckte die linke Hand aus
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