Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
und berührte mit dem Zeigefinger die Gerte. Sie fühlte sich warm an, lebendig. Neugierig blickte Pala durch den kristallklaren Tropfen auf ihrer Fingerkuppe. Sie konnte darin Zittos Burg sehen, winzig klein, als wäre sie unendlich fern. Und dann leckte Pala die »Träne« ab. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck der Verwunderung.
»Was ist?«, fragte Giuseppe, der jede ihrer Bewegungen argwöhnisch verfolgt hatte.
»Es schmeckt salzig. Wie eine richtige Träne.«
Während der Geschichtenerzähler noch mit dem Einfangen einer eigenen Probierträne beschäftigt war, veränderte sich in Palas Ohren das Rauschen aus dem Astwerk der Weide. Plötzlich hörte das Mädchen eine leise, jammernde Stimme.
»Nein, geh nicht dorthin! Ich will dich nicht auch noch verlieren. Bitte…!« Das Klagen der Trauerweide ging in ein herzergreifendes Schluchzen über.
Pala war entsetzt. Das Jammern und Weinen konnte nur von dem Baum kommen, denn von Giuseppe stammte es eindeutig nicht. Aber wie war das möglich? Ehe sie sich von ihrem ersten Schrecken erholen konnte, stockte ihr erneut der Atem, denn unvermittelt spürte sie eine große Traurigkeit in sich aufsteigen. Erschrocken starrte sie die Weide an und taumelte zwei, drei schnelle Schritte zurück. Sie wurde von diesem brennenden Seelenschmerz regelrecht überrumpelt, denn sie kannte ihn sehr genau. Ja, es war ihre eigene Trauer aus der vergangenen Nacht, die sie da verspürte, jenes Empfinden des schmerzlichen Verlustes von Mutter, Vater und Schwester, von allem, das ihr Geborgenheit gegeben hatte.
Gift! Ihr erster klarer Gedanke, der über den Kummer obsiegte, schien ihr unmittelbar in die Beine zu fahren, die sich plötzlich beunruhigend weich anfühlten. Pala schwankte. Entsetzt blickte sie in Giuseppes bleiches Gesicht.
»O nein!«, jammerte er neben ihr. Er war in dieselbe Falle getappt. Sein Blick starrte anklagend auf den Finger, der ihm eben noch im Mund gesteckt hatte. Die Tränen der Trauerweide wirkten schnell. Giuseppe schüttelte verzweifelt den Kopf und schluchzte: »Vater, das habe ich nicht gewollt. Wenn ich nur gewusst hätte, was ich damit anrichte… Aber ich werde es wieder gutmachen. Ich…«
Der junge Geschichtenerzähler erschrak, als Palas Hände die seinen umfassten. Wie durch einen Schleier sah er ihr tränenfeuchtes Gesicht. »Giuseppe!«, flüsterte sie sanft. »Es ist gut, Giuseppe. Was du fühlst, ist nur ein weiterer Versuch Zittos, uns von seiner Festung fern zu halten.«
»Aber diese Traurigkeit, der Schmerz… Er ist so… groß! So echt.«
»Weil es wirkliche Trauer ist. Verstehst du denn nicht? Die Tränen der Weide können nur wachrufen, was in uns schlummert. Doch Nonno Gaspare hat einmal zu mir gesagt, der Schmerz sei zu unserem Schutz gemacht.«
»Ich kenne Vaters Lektionen: Gebranntes Kind scheut das Feuer. Aber was hilft uns das noch? Diese Tränen sind pures Gift! Den Wahnvorstellungen werden vermutlich Magenkrämpfe folgen, dann tritt uns Schaum vor den Mund, wir laufen grün an und…«
»Giuseppe!«, unterbrach Pala ihren Gefährten abermals mit ruhiger, aber eindringlicher Stimme. Sie hatte seine beiden Hände gepackt, drückte sie so fest sie konnte und hielt seinen Blick mit ihren Augen gefangen. Als er endlich ruhiger wurde, lächelte sie. »Dich bringen höchstens deine Einbildungen um, Brüderchen, aber nicht der Baum. Ich habe ja selbst im ersten Moment gedacht, die Tränen seien vergiftet, aber dann sah ich dein Gesicht und…«
»Und?«
»Es hat mir so wehgetan.«
»Was?«
»Ansehen zu müssen, wie du leidest. Und mit einem Mal fühlte ich mich selbst stärker, weil ich dich ja beschützen musste.«
Der Geschichtenerzähler machte einen verwirrten Eindruck. War die Rolle des rettenden Ritters nicht gerade noch anders besetzt gewesen? »Du scheinst von meinem Vater mehr gelernt zu haben als sein eigener Sohn. Aber mein alter Herr hat Recht: Der Schmerz ist zu unserem Schutz gemacht. Und deshalb sollten wir schleunigst umkehren, wie der Baum es uns geraten hat.«
»Ich habe ihn nur sagen gehört: ›Geh nicht dorthin!‹ Von der Zitadelle hat die Trauerweide nichts erwähnt. Vielleicht meinte sie ja, wir sollten nicht zu unseren alten Fehlern zurückkehren, zu unserem verkehrten Standpunkt, dem wir unser Leid zu verdanken haben. Diese Lektion hat mir erst vor kurzem ein guter Freund beigebracht.«
Giuseppes linker Mundwinkel wanderte in Richtung Ohr. »Du meinst diesen Heißsporn, der mit Kerzenstummeln
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