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Paladin der Seelen

Paladin der Seelen

Titel: Paladin der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois McMaster Bujold
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der See, und von endloser Vielschichtigkeit. Es waren Augen, die gleichzeitig jede Person auf der Welt betrachten konnten und ein jedes lebendes Ding, von innen und von außen, mit der gleichen ruhigen Aufmerksamkeit.
    Lord Bastard. Ista sprach seinen Namen nicht laut aus, sonst hätte er es für ein Gebet halten können. Stattdessen sagte sie scheinbar leichthin: »Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand für mich?«
    Er beugte sich über seinen ausladenden Bauch nach vorn. »Klein, aber stark. Ich kann nicht einmal ein Blatt anheben, wie Ihr wisst. Und kein Eisen biegen. Und nicht Euren Willen. Meine Ista.«
    »Ich bin nicht die Eure.«
    »Aus mir spricht die Hoffnung und die Vorfreude, wie man es einem Freier wohl nachsehen mag.« Das Lächeln auf seinem feisten Gesicht wurde noch breiter.
    »Oder die Betrügerei einer Ratte.«
    »Ratten«, bemerkte er seufzend, »sind unbedeutende Kreaturen, scheu und ehrlich. Und sehr beschränkt. Für Betrügereien braucht man einen Mann. Oder eine Frau. Falschheit, Verrat … Vertrauen, Frohlocken … Fallen für Bären …«
    Ista zuckte bei dieser möglichen Anspielung auf Foix zusammen. »Ihr wollt irgendetwas. Die Götter können mit süßer Zunge sprechen, wenn sie etwas wollen. Als ich etwas wollte, als ich mit ausgebreiteten Armen auf dem Gesicht lag und gebetet habe, in Tränen und von Entsetzen erfüllt – über Jahre hinweg –, wo seid Ihr da gewesen? Wo waren die Götter in der Nacht, als Teidez starb?«
    »Der Herbstsohn hat viele Männer ausgeschickt, als Antwort auf Eure Gebete, süße Ista. Sie haben sich auf der Straße abgewendet und eine andere Richtung eingeschlagen, und sie kamen nicht an. Denn er konnte nicht ihren Willen verbiegen und nicht ihre Schritte lenken. Und so verstreuten sie sich wie Blätter im Wind.«
    Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, in dem ein tieferer Ernst lag als in jedem missmutigen Gesicht, das Ista bisher gesehen hatte. »Nun betet ein anderer – in einer Verzweiflung, die so tief ist wie damals die Eure. Jemand, der mir so lieb ist, wie Teidez meinem Bruder lieb war. Und ich sende Euch. Werdet Ihr Euch auch abwenden? Wie Teidez’ Retter es tat? Auf dem letzten Stück, wenn nur noch wenige Schritte vor Euch liegen?«
    Schweigen breitete sich aus.
    Istas Kehle war vor Zorn wie zugeschnürt. In ihrem Innern brodelte eine Mischung komplizierter Gefühle, die sie selbst nicht unterscheiden oder benennen konnte. Ein Eintopf aus Leid, nahm sie an. Zischend stieß sie zwischen den Zähnen hervor: »Bastard, du Bastard .«
    Er grinste nur, was ihren Zorn weiter entfachte. »Wenn ein Mann erscheint, der Euch zum Lachen bringen kann, ernste Ista, zornige Ista, eiserne Ista, wird Euer Herz geheilt. Darum habt Ihr nicht gebetet; das ist ein Lohn, den selbst die Götter Euch nicht geben können. Wir müssen uns mit so schlichten Dingen begnügen wie der Erlösung von Euren Sünden.«
    »Als ich das letzte Mal den verworrenen, heiligen und unzureichenden Anweisungen der Götter gefolgt bin, wurde ich betrogen und zu Mord verleitet!«, tobte sie. »Aber von Euch brauche ich keine Erlösung! Ich möchte nichts mit Euch zu tun haben. Würde ich glauben, dass ich für Vergessen beten kann, würde ich es tun … zu vergehen, ausgelöscht werden, sich auflösen wie die verlorenen Geister, die einen wirklichen Tod sterben, und so dem Leid der Welt entfliehen! Was können die Götter mir geben?«
    Seine Augenbrauen hoben sich zu einem Ausdruck von Wohlwollen, der zutiefst heuchlerisch wirkte: »Arbeit, süße Ista!«
    Er trat näher, und die Holzdielen unter seinen Füßen knarrten und ächzten bedenklich. Beinahe wäre sie zurückgewichen angesichts der beängstigenden Vorstellung, dass sie beide durch den Boden brechen und in den Raum darunter stürzen würden. Er hielt die Hände leicht über ihren Schultern, berührte sie aber nicht. Verärgert stellte sie fest, dass sie nackt war. Er beugte sich nach vorne, und sein fetter Leib berührte ihr nackte Haut. »Mein Zeichen ist auf Euer Stirn«, murmelte er.
    Seine Lippen berührten ihre Stirn. Der Fleck brannte wie Feuer.
    Er hat mir die Gabe des zweiten Gesichts zurückgegeben. Eine unmittelbare, ungelenkte Wahrnehmung der Welt des Geistes, seiner Welt. Ista erinnerte sich, wie die Lippen der Mutter auf dieselbe Weise ihre Haut versengt hatten, in jenem Wachtraum vor langer Zeit, der so verheerende Folgen gehabt hatte. Du kannst mir deine Gaben aufdrängen, aber ich muss sie nicht

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