Paladin der Seelen
hatte sie die Pflege des kranken Mannes beaufsichtigt. Das war nicht unter der Würde einer Burgherrin, wenn es einen so hochwohlgeborenen Patienten, einen so bedeutenden Offizier, einen so nahen und offenbar hoch geschätzten Verwandten ihres Mannes ging. Womöglich benötigte Lord Illvin eine Medizin um Mitternacht, irgendeine Behandlung, die von den Ärzten angeordnet war. Es gab ein Dutzend mögliche harmlose Erklärungen.
Jedenfalls eine Handvoll.
Ein oder zwei zumindest.
Ista stieß zischend den Atem aus und kehrte zum Bett zurück. Es dauert lange, bis sie wieder einschlafen konnte.
Kurz nach Sonnenaufgang erschien Lady Cattilara in Istas Gemächern, viel zu früh für eine Frau, die sich nachts verstohlen in der Burg herumgetrieben hatte. Sie platzte beinahe vor fröhlicher Gastfreundschaft und wollte Ista zu morgendlichen Dankgebeten in den Tempel der Stadt begleiten. Mit Mühe unterdrückte Ista die bohrende Anspannung, die die Gegenwart der jungen Gräfin in ihr hervorrief. Als Ista den blumengeschmückten Eingangshof erreichte, entdeckte sie, dass Pejar dort bereits auf sie wartete und ein Pferd für sie bereithielt. Nun war es zu spät, sich zu entschuldigen. Ihre Muskeln taten immer noch weh, und sie fühlte sich schwach und alles andere als dankbar. Trotzdem ließ sie sich mitschleppen. Pejar führte ihr Reittier in einem schicklichen Tempo. Lady Cattilara setzte sich an die Spitze der kleinen Prozession. Sie hielt den Kopf hoch erhobenen, schwang die Arme und hatte noch genug Atem, mit ihren Damen während des Abstiegs auf dem trügerischen gewundenen Pfad ein Lied anzustimmen.
Hinter den Mauern und Toren des Ortes standen die Gebäude dicht an dicht. Porifors wartete offensichtlich nur darauf, eine Stadt zu werden – durch zusätzliche Mauern oder eine Zeit des Friedens, in der man auf Mauern verzichten konnte. Der Tempel des Ortes war ebenfalls klein und alt, die Altäre der vier Götter kaum mehr als überwölbte Ausbuchtungen das zentralen Innenhofs, und der Turm des Bastards war eines jener provisorisch errichteten, ein Stück abseits stehenden Gebäude, die länger Bestand gehabt hatten, als jemand erwartet oder gewünscht hätte. Trotz alledem war der alte Geistliche nach dem Gottesdienst begierig, der Königinwitwe sämtliche bescheidenen Kostbarkeiten seines Tempels zu zeigen. Ferda bedeutete Pejar, bei Ista zu bleiben, und entschuldigte sich. Er bliebe nicht lange fort, erklärte er. Istas Lippen zuckten angesichts seiner Wahl des Zeitpunkts.
Es stellte sich heraus, dass die Kostbarkeiten des Tempels so bescheiden gar nicht waren. Der Tempel hatte viele großzügige Zuwendungen von Lord Arhys erfolgreicheren Überfällen und Beutezügen erhalten. In den überschwänglichen Aufzählungen des Geistlichen wurde häufig auch Lord Illvins Name genannt. Ja, allerdings, das Verbrechen, das ihn niedergestreckt hatte, war ein schrecklicher Vorfall gewesen. Und leider, leider, konnten die ländlichen Heiler des Tempels nichts für ihn tun. Doch es bestand immer noch die Hoffnung, dass klügere Leute aus den größeren Städten in Ibra oder Chalion Wunder bewirken könnten, wenn nur Lord Arhys’ Gesandte endlich einen dazu bewegen konnten, hierher zu kommen. Nachdem der Geistliche die interessantesten Geschichten zur Herkunft seiner Stücke vorgetragen hatte – oder vielleicht auch die sensationslüsternsten –, beschrieb er genauestens die Pläne für einen neuen Tempel. Dieser sollte gebaut werden, sobald der Friede sowie die Förderung durch den Grafen und die Gräfin es möglich machten.
Schließlich kehrte Ferda zurück. Sein Gesicht war ernst. An der Altarnische der Frühlingsherrin hielt er kurz und kniete nieder. Seine Augen schlossen sich, seine Lippen bewegten sich. Erst dann ging er weiter und trat an Istas Seite.
»Entschuldigt mich, Hochwürden«, unterbrach Ista schroff den Monolog des Geistlichen. »Ich muss kurz mit meinem treuen Ritter sprechen.«
Sie kehrten zur Nische der Frühlingsherrin zurück. »Was ist?«, fragte Ista leise.
Ferdas Stimme war ebenso leise. »Der morgendliche Bote von Lord dy Caribastos ist eingetroffen. Es gibt keine Neuigkeiten von Foix oder dy Cabon, und auch nicht von Liss. Daher wollte ich um Eure Erlaubnis fragen, mich mit zweien meiner Männer auf die Suche zu begeben.« In wohl überlegter Bewunderung blickte er hinüber zu Lady Cattilara, die es übernommen hatte, höflich dem Geistlichen zu lauschen. »Offensichtlich seid Ihr hier in
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