Palast der blauen Delphine
weiter. »Daher wirst du es sein, der ihre Seele auf die Reise zu den Inseln der Seligen schickt. Morgen abend wird die Barke ihren Weg nach Westen antreten.«
Asterios spürte, wie die Feuchtigkeit in seine Glieder kroch. Er zog den regenschweren Umhang enger um sich und blieb, wo er war. Die stickige Enge der Koje hätte er jetzt nicht ertragen.
»Und wenn nach unserem Tod nichts mehr wäre außer der Spur, die wir auf dieser Erde hinterlassen?« Die helle Stimme von Ikaros war ihm noch immer im Ohr. »Hast du diesen Gedanken auch schon einmal gehabt, Asterios?«
Er konnte sich genau an die Situation erinnern, in der jene Sätze gefallen waren. Die Trauernden hatten am Ufer gewartet, es mußten Hunderte gewesen sein. Vor ihnen stand Phaidra, weiß und schmal im weichen Abendlicht, zwischen Mirtho und Pasiphaë, die beide Schwarz trugen.
»Du bist das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige. Deinen Schleier hat noch keine Sterbliche gelüftet.« Ihre mädchenhafte Stimme hatte sich über das Murmeln und Schluchzen der Versammlung erhoben. Viele weinten. »Nimm unsere Schwester Merope auf in Deinen Leib, damit sie in neuer Gestalt zu uns zurückkehren kann!«
Sein Blick glitt zu der Barke, in der sie Meropes Leichnam gebettet hatten. Die Tote war bis zum Hals in ein Leinentuch eingeschlagen, dessen Ränder ausgefranst waren, um es der Großen Mutter zu erleichtern, den Lebensfaden zurück in ihren Schoß zu rollen. Ihr Gesicht bedeckte ein heller Schleier.
»Bringt jetzt der Herrin der Tiefe eure Gaben!«
Während die Sonne sich dem Horizont näherte, legten Frauen und Männer Blüten und getrocknete Pflanzen auf den Leichnam. Einige ließen Honig auf das Tuch rinnen, andere besprengten es mit Milch, Wein und Wasser.
Dann war die Reihe an Asterios. Seine Hand, die zum erstenmal die Schale mit dem Blut des Opferlamms hielt, war ganz ruhig.
»Dir opfere ich den Saft des Lebens«, sagte er und war verwundert, wie tief und gelassen seine Stimme klang. »Göttin des uferlosen Meeres, nimm den Leib meiner Mutter in Deinen Schoß auf!«
Das Blut rann dunkel auf das Linnen und hinterließ ein verschlungenes Muster. Er trat zur Seite; Pasiphaë, Mirtho und Phaidra verteilten bereits das Reisig. Die Hohepriesterin senkte ihre Fackel. Lodernd schlugen die Flammen empor.
Mit vereinten Kräften schoben die Frauen das brennende Gefährt ins Wasser. Die Totenbarke war zu ihrer langen Reise aufgebrochen.
»Asterios, was machst du hier? Du wirst dir noch den Tod holen!« Ikaros beugte sich besorgt zu dem Kauernden hinunter. »Naß bis auf die Haut! Du mußt sofort deine Kleider wechseln.«
»Was für eine seltsame Nacht, Ikaros«, murmelte Asterios und stand auf. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Klingt nicht gerade nach großer Vorfreude auf die Heimat«, stellte der andere lakonisch fest. »Du gefällst mir schon seit Tagen nicht. Gibt es etwas, was ich für dich tun kann?«
»Die einzige, die vielleicht einen Rat gewußt hätte, ist tot.«
»Merope?«
Er nickte.
»Flieh nicht in die Vergangenheit!« sagte Ikaros. »Damit wird sich dein anspruchsvolles Liebchen nicht zufrieden geben.«
»Ich weiß«, flüsterte Asterios.
»Warte ab. Laß Ariadne erst einmal wieder in der heimischen Umgebung sein; dann sieht alles bald ganz anders aus.«
»Was willst du damit sagen?«
»Weißt du, was das Schicksal dir bestimmt hat?« lächelte Ikaros. »Zeigen dir die Visionen auch deine eigene Zukunft?«
Manchmal, dachte Asterios. Und was ich erkennen kann, stimmt mich nicht heiter. Aber er sagte nichts und deutete hinaus auf das Meer. Der stürmische Wind der vergangenen Nacht war einer sanften Brise gewichen, die die Wellen kräuselte. Im Osten kündete sich der Sonnenaufgang an, und vor ihnen, wie von Zauberhand heraufbeschworen, tauchte die hügelige Küste Kretas auf.
Drei Wochen später legte die königliche Galeere im Hafen von Amnyssos an. In ihrem Kielwasser folgte die attische Triere. An ihrem einzigen Mast hing schlaff das grobe Leinensegel, aus vielen Einzelbahnen zusammengenäht und in fleckigem Schwarzbraun gefärbt.
Seit den frühen Morgenstunden strömten die Leute zum Hafenbecken, denn die Kunde von der Rückkehr des Königs, der zum dritten Mal die künftigen Mysten aus Athenai nach Kreta gebracht hatte, hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet.
Schon waren Beiboote unterwegs, um Passagiere und Ladung ans Ufer zu bringen. Von weitem sah Asterios Minos an der Reling stehen; an
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